KW09

Selbstportrait mit Meisterdenker

Tom Kummer

Felix Philipp Ingold kann auf ein langes Schaffen zurückblicken. Mit den versonnenen „Endnoten“ beschliesst der Autor und Kulturwissenschafter nun eine Werkreihe, die er 1984 mit «Haupts Werk Das Leben» begonnen hat. Ein kaleidoskopisches Portrait, das den Fokus vermissen lässt.

Von Marco Neuhaus
24. Februar 2020

Die Endnoten, im Untertitel als «Versprengte Lebens- und Lesespäne» ausgewiesen, sind eine umfangreiche Textsammlung, die von Kindheitserinnerungen, Alltagsszenen über Selbstreflexionen, Traumnotizen bis hin zu Portraitskizzen seiner Nachbar*innen reicht. Angelegt ist das Ganze als Selbstportrait: „Minuten, Sekunden intensiver sinnlicher Wahrnehmung […] können eine Person, ein Leben, gar eine Epoche glaubwürdiger vergegenwärtigen als jede episch angelegte Panoramafahrt.»

Schnell lassen sich wiederkehrende Motive registrieren: Schlaflosigkeit, selbstgewählte Einsamkeit, Waldspaziergänge, Selbstreflexion. Oft geht es auch um Sprache, insbesondere das Sprachvertrauen des Autors ebenso wie seine Skepsis gegenüber Versuchen, erlebte Gegenwart zu versprachlichen, kommen wiederholt zum Ausdruck. Viel Platz ist zudem seinen Lektüren gewidmet, die sich aus Beobachtungen, Notizen und Eindrücke etwa zu Botho Strauss, Faulkner, Montaigne, Zwetajewa, Lukrez und dem älteren Plinius zusammensetzen. Die Resultate sind gemischt: Sein schönes «Gedenkblatt zu Konrad Bayer» verzahnt Gedanken zu Bayers Werk, Leseeindrücke und persönliche Erinnerungen. Die Ausführungen zu Musil oder Hans Henny Jahnn hingegen dürften niemanden hinterm Ofen hervorlocken. Man fragt sich, für wen diese Abrisse gedacht sind, die sich in einer undankbaren Mitteldistanz zum Objekt bewegen: zu spezifisch, um als Einführung Uneingeweihter zu funktionieren; zu allgemein, um über Gemeinplätze hinauszukommen. 

Zum Autor

Felix Philipp Ingold, geboren 1942 in Basel, lebt in Zürich und Romainmôtier. Studium der Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie und Theologie der Ostkirche an der Universität Basel. 1968 promovierte Ingold zur Poetik des russischen Symbolismus. Daneben war er als Journalist und Kulturkorrespondent u.a. beim Schweizer Radio DRS, der Weltwoche und der Basler Zeitung tätig. Ab 1978 war er ordentlicher Professor für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands an der Universität St. Gallen. Ingold ist Autor, Herausgeber und Übersetzer zahlreicher Zeitschriften- und Buchpublikationen. Für seine Prosa und Lyrik erhielt Ingold gewürdigt, u.a. mit dem Ernst-Jandl-Preis des Österreichischen Bundeskanzleramts (2003) und dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (2012).

Bald stellt sich heraus, dass der Essayist Ingold dem Lyriker und Erzähler unterlegen ist. Seine Zeitdiagnostik klingt altväterlich, auch wo sie recht hat; gelegentlich irritieren Binsenweisheiten: «Dass Ich ein Anderer ist, das ginge noch an; aber Ich ist viele Andere, und zwar gleichermassen.» Die Exkurse zu verschiedenen «Geistesgrössen» und, schlimmer noch, «Meisterdenker[n]» – so nennt er Philosophen wie Heidegger und Blumenberg in anstrengend altbackener Feierlichkeit – haben oft wenig Fleisch am Knochen. Als Höhepunkte überraschen hingegen häufig die erzählten Spaziergänge. Mal sind sie von mikroskopisch genau differenzierender Sinnlichkeit, mal fast haikuhaft sparsam:

«Vor mir im faulenden Laub, lang und schmal hingestreckt, mein Schatten. 

Wessen Karikatur?»

Je näher er sich ans Lyrische begibt, desto klarer treten Ingolds Stärken hervor: «Der Name sitzt. Ein Mann am Tisch. Der schreibt’s mit Blut im Mund. Jetzt blüht die körperwarme Signatur.» In solchen rätselhaften Miniaturen gewinnt Ingolds Deutsch eine helle, nüchtern-klare Diktion, bedacht um Vieldeutigkeit ohne Ungenauigkeit.

Aufschlussreich wird das Buch, wo sich Ingold als Autor selbst situiert. Er sieht sich vom Literaturmarkt isoliert; darin fühlt er sich „nun, da [s]ein Schreiben ausläuft“ Hamann, dem «alten Magus», «nah in seiner Bitterkeit über mangelnde Anerkennung».Solches verwirrt vom doch preisgekrönten Lyriker und Übersetzer. Darin steckt eine Norma-Desmond-hafte Kränkung («am big! It’s the pictures that got small!») über genau das Fehlen jener Gunstbezeugungen, die einem angeblich egal sind. Umgekehrt kann man Ingold anrechnen, dass er sich auch in Posen zeigt, die ihn kleinlich und divenhaft erscheinen lassen. Das gibt dem Buch seine Ambivalenz: Was es hochtrabend macht, macht es bescheiden; was es spannend macht, macht es lahm. Je nachdem, ob man ihre Versuchsanlage für vielversprechend hält, wird man die Vielgestaltigkeit der Endnoten loben oder ihren Kraut-und-Rüben-Charakter tadeln.

Früher gab es eine Reihe von Bilderbüchern mit «Magic-Eye»-Illusionen. Wenn man beim Anschauen schielte, erschien ein sonst unsichtbares Motiv oder ein 3D-Effekt. Ingolds Buch ist ein wenig wie ein solches Magic-Eye-Bild. Wenn man vom genau richtigen Winkel aus schaut oder stark genug schielt, sieht man eine Reflexion auf Autorschaft, Leben, Lesen und Selbst – in gemischten Metaphern ein vielstimmiges Selbstportrait. Aber irgendwann wird das Auge müde oder man bekommt Kopfschmerzen; plötzlich sieht man kein Zauberbild mehr. Dann meint man, aller theoretischen Abfederung zum Trotz, ein schlichtes Notizbuch in den Händen zu haben. Wie ein solches kann man Ingolds Endnoten gut lesen, trotz der höher gegriffenen geschichtsphilosophischen Selbstrechtfertigung – sie beim Stöbern im eigenen Bücherregal mal in die Hand nehmen und blättern.

Felix Philipp Ingold: Endnoten. 600 Seiten. Klagenfurt: Ritter Verlag 2019, ca. 30 Franken.

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