KW01
Kraftvolle poetische Irritationen

Der Titel ist Programm: «Tropischer Tinnitus» heisst die neue Gedichtsammlung von Flurina Badel.
Ein Tinnitus ist unentrinnbar, wird zum unterschwelligen Orgelpunkt, zum Hintergrundrauschen des Alltags. Er ist im Körper, aber nicht Teil des Körpers. Er sticht, er stört, er irritiert, er lässt aufhorchen. Auch diese Gedichte stecken voller Irritationen, Stiche, Gegensätze: Auf der klanglichen Ebene zum Beispiel in der Aneinanderreihung von «i»s in Titeln wie «tinnitus tropic», «solstizi ipocrit» (Scheinheilige Sonnenwende), «harakiri tactic» (Taktisches Harakiri) oder «nicotin al kiosc» (Nikotin am Kiosk). Auf der metaphorischen Ebene mit akustischen (Uhrenticken, Schreie, Technobässe), visuellen (Blendung, grelle Lichter, Blitzstrahlen) und physischen Irritationen (Stiche, Schnitte, Scherben, Splitter, Vibrationen), die leitmotivisch eingesetzt werden. Auch inhaltlich haben diese Texte Dornen, können weh tun, offenbaren Wunden. Der Titel der Gedichtsammlung verbindet in einem irritierenden Gegensatz die Sonne, Exotik, Fernweh, Fruchtbarkeit evozierenden Tropen mit dem störenden, stechenden, unentrinnbaren Tinnitus.
Wie Claude Levi-Strauss’ «Tristes Tropiques» sind Flurina Badels Gedichte mit dem unübersetzbar Fremden konfrontiert, nur dass dieses Fremde hier ebendiese «zivilisierte Welt» ist, die Phänomene wie Konsumgesellschaft, Populismus oder Entfremdung in der Gestalt von Individualismus und Bindungshemmung hervorbringt – eine Welt, die uns auch mit aller Fremde konfrontiert, die in uns selber steckt. Ausserdem sind «Tropen» nicht nur ein Breitengrad, sondern – eine für die Lyrik bedeutsame Mehrdeutigkeit – auch rhetorische Figuren, also ein sprachliches Stilmittel, das die Lyrikerin ausgiebig und auf kreative Weise nutzt, zum Beispiel in verschiedenen eigenwilligen Metaphern, die sie für den Schreibprozess findet, hier mit Anklängen an Virgina Woolf und Meret Oppenheim.
mincha fögl alb
stanza
per mai suletta
ser la porta
sot üna piruetta
divr la fanestra
sun leivra davant
costas naiv frais-cha
jede weisse seite
ein zimmer
für mich allein
schliesse die tür
schwinge eine pirouette
öffne das fenster
bin hase
am frisch beschneiten hang
nicotin al kiosc
tir
mia dosa cofeïn
am büt illa lavur
adascus palaint
meis cheu vers her
sguersch sün ta sumbriva
per verer scha teis man
tscherchess meis
eu sun l’aua chi chatta
müs-chel
suna chi s’implischa
cun ögls cregns
füma dad ot
nikotin am kiosk
ziehe
meine dosis koffein
stürz mich in die arbeit
heimlich geistert mein kopf
nach gestern
schielte ich auf deinen schatten
ob deine hand die meine sucht
ich bin wasser
und finde mo0s
bin ich das saugt
mit nassen augen
rauche ich laut
Was in diesen rätoromanischen Gedichten sprachlich passiert, lässt aufhorchen: Die poetische Sprache sucht und findet neue Wege, sie wiederspiegelt die Sprache der jungen Generation, ist bewusst mehrsprachig, integriert neuartige Ausdrücke, Entlehnungen aus anderen Idiomen, aus dem Deutschen und Englischen, schafft Neuschöpfungen – aber nicht zum Selbstzweck, sondern immer im Dienst der sprachlichen Ausdruckskraft oder der programmatischen Irritation. Gleichzeitig zeugt diese poetische Sprache von einem feinen Gehör und Gespür für fast vergessene, im Alltag nicht mehr gebräuchliche Ausdrücke, Archaismen, die hier in ganz neuen Zusammenhängen erscheinen und unerhört modern klingen. Die Gedichte zeugen von einer eigenständigen und eigensinnigen lyrischen Stimme, von einer aufwändigen und selbstkritischen sprachlichen Arbeit und von einem kreativen und feinfühligen bildlichen Ausdruck. Sie entfalten einen Sog und eine Spannung: Leserinnen und Leser erleben einen höllischen Road Trip (immer wieder kommt ein Auto vor) durch die Widrigkeiten und Widersprüche des Schreibens, des Selbst, des Miteinanders und des menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur.
not argientina
sclerischa zizagna
lung ils autos parcats
avant man in man
vaina uossa dozà las vuschs
co salvar il muond
ans zaclignain in imbarraz
inaquella ün guis
sguizcha speravia
il meglder ecoactivist ever
riast
ed üna nüvletta
zoppa la glüna farcla
metallische nacht
erhellt unser unkraut
entlang parkierter autos
eben noch hand in hand
zanken wir uns jetzt in ratlosigkeit
wie die welt retten
da huscht ein marder vorüber
bester ökoaktivist ever
lachst du
und eine wolke
verdeckt den sichelmond
In diesem mit Sorgsamkeit herausgegebenen und sinnfällig in dunkelgrüner Farbe gedruckten Gedichtband entdecken wir eine reif überlegte und sorgfältig gearbeitete Lyrik, die leichten Fusses und in einem faszinierend schillernden sprachlichen Kleid daherkommt. Die Autorin setzt mit ihrem ersten Gedichtband ein starkes Zeichen in die rätoromanische und schweizerische Literaturlandschaft.
plasticarias schmaridas
daspö il restostrada
meis man our da fanestra
scrima cul vent
uras sabladas in flettas
sül strich da catram
frenadas qua e
là cadavers
briclan davant ils ögls
guarda il mar
che vista infernala
lung bos-chom ornà pastel
ausgebleichter plastikmüll
seit der raststätte
meine hand aus dem fenster
ficht mit dem wind
stunden in streifen gesäbelt
bremsspuren auf teer
ab und an kadaver
flimmern im blick
schau das meer
welch abgefahrene sicht
gesäumt von
pastell behängtem gestrüpp
Flurina Badel: tinnitus tropic, poesias. (Nachdichtungen von Flurina Badel, Simone Lappert und Rico Valär.) 125 Seiten. Zürich: editionmevinapuorger 2019. 125 Seiten. 29 Franken.