KW47

Bieder wider alle andern

Tom Kummer

Mit «Unhaltbare Zustände» reihte sich Alain Claude Sulzer dieses Jahr in die Nominiertenriege für den Schweizer Buchpreis ein. Auf dem Hintergrund der 68er-Bewegung verzahnt der Roman gekonnt die marktwirtschaftliche Vereinnahmung von Kunst mit dem Schicksal eines Schaufensterdekorateurs, der von der Zeit abgehängt wird.

Von David Sieber
19. November 2019

Durch städtische Fussgängerzonen zu flanieren, bedeutet zwangsläufig, den Blick durch die Auslagen der Geschäfte zu tragen. Die Waren versprechen allerlei käufliche Erfüllung, aber schlussendlich sind es die Schaufenster, die überzeugend verführen müssen. Die Dekoration spielt mit Sehnsüchten und bedient diese libidinöse Empfänglichkeit mit ästhetischen Mittel. Es handelt sich also durchaus um eine Kunstform, die uns spiegelt. Im mondänen Kaufhaus Quatre Saison in Bern erfreuen die beschaulichen Werke des Dekorateurs Stettler die Vorübergehenden. Wie seine Schaufenster gestaltet der ewige Junggeselle auch sein Privatleben ordentlich und erwartet dasselbe von seinen Mitmenschen. Den sozialen Umbrüchen der Sechziger steht der 59-jährige Saubermann entsprechend unverständlich gegenüber. Seit Kriegsende pervertiere sich die zusehends vernetzte Öffentlichkeit, wolle immer informiert sein, reisen, fernsehen, sie interessiere sich für Sex, Drogen und Rockmusik: «Der Haarschnitt verändert sich wie die Moral.» Aber ein Dekorateur (also ein Künstler), der den Moden nicht folgen kann, ist dem Laden nichts wert und so wird bald der jüngere Bleicher eingestellt.

Sulzer stellt nun an der unscheinbaren Figur Stettlers einem Mannequin ähnlich verschiedene gesellschaftliche Trends aus. Wie so manche im kriegsmüden Europa will auch Stettler sich in Ruhe am Wirtschaftsboom erfreuen. Aber der selbstgerechte Biedermann erlebt am eigenen Leib, was Werte gelten, wenn nur der Preis zählt. In den neuen Schaufenstern zeigt die Weihnachtsgeschichte weder Krippe noch Marïa, und im Sommer posieren halbnackte Menschen, ohne dass sich jemand empört. In die Schaufenster kommt, was die Kaufkraft reizt.

Zum Autor

Alain Claude Sulzer wurde 1953 in Riehen bei Basel geboren und lebt heute in Basel, Vieux Ferrette (Elsass) und Berlin. Er absolvierte eine Ausbildung zum Bibliothekar und arbeitete als Übersetzer und freier Autor für diverse Zeitungen und Rundfunkanstalten. Für seinen ersten Roman Das Erwachsenengerüst (1983) wurde Sulzer mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet. Es folgten zahlreiche weitere Prosastücke, für die er u.a. mit dem Prix Médicis étranger (2008) und dem Hermann-Hesse-Preis (2009) prämiert wurde. Für seinen dreizehnten Roman Unhaltbare Zustände wurde Sulzer für den Schweizer Buchpreis nominiert.

Hoffnung nicht-beruflicher Art verkörpert die Radiopianistin Lotte, mit der sich ein zutraulicher Briefwechsel entspinnt. Das Talent aus Deutschland, von ihrem genialischen Lehrer sexuell missbraucht, ist auf ihre Weise abgeschottet und wie Stettler nur in ihrer Kunst zu Hause. Die Annäherung der beiden Erzählstränge bilden das retardierende Moment im Leben des Abgehängten. Aber eine leibhaftige Begegnung bleibt aus. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wird Lottes Konzert eines sowjetischen Komponisten unter öffentlichem Druck abgeblasen. Stettler will ausserhalb der Geschichte leben, aber auf dem Berner Münster weht die Fahne der Viet-Cong. Sulzer unterlegt dem Roman historische Dynamiken, die sich als eigentliche Akteurinnen entpuppen und Stettler (und Lotte) ohnmächtig mitreissen.

Die einfache Sprache des Romans ist sich Klischees und geläufiger Formulierungen nie zu Schade. Eben dadurch ermöglicht sie die Nähe zu Stettler. Sie fügt sich ein, ist angepasst und beschaulich, wie seine Schaufenster. Kurzum: beherrscht hinter Glas. Die Zustände sind aber nicht lange haltbar und die Situation Stettlers, des ehemaligen Frontsoldaten, verlangt Kriegsrhetorik: Er ist in «Alarmbereitschaft» und «verteidigt» sich: seine Anstellung gegen den Neuen, seine Werte gegen Schwulenbars, «seine Stadt, seine Heimat, seine Existenz und sein Weg» gegen Demonstrierende. Sulzer arbeitet mit dem Topos des wütenden, weissen Mannes. Dabei vermeidet er es zu psychologisieren und vereinfachte Erklärungen zu geben. Vielmehr materialisiert das Buch an Stettler Effekte von Mechaniken, die dieser nicht begreift, was dazu führt, dass er ständig Gesichter für einen unsichtbaren Feind findet. Allzu klischiert und flach fällt dagegen Lotte aus. Sie wirkt vor allem als Projektionsfläche, um Stettlers unterdrückte Sexualität und Zuneigung zum Ausdruck zu bringen. Zwar eröffnet sie den Blick auf die unzureichende Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit (persönlich und auf die Nachkriegszeit bezogen), aber erfüllt damit wiederum nur eine limitierte Funktion im Text.

Seine kritische Zeitskizze ist Sulzer durchaus nicht witzlos geraten. Zu absurd sind viele der Szenen, in die Stettler stolpert, wie die Drag-Show oder das Polizeiverhör. Der Meistergriff ist aber fraglos, wie Sulzer Kunstdiskurse und Kapitalismuskritik gleichzeitig an der Schaufensterdekoration abarbeitet. Bleicher, der neue Dekorateur, wird weltweit in Kunst und Mode gefeiert. Er habe Kunst mit Alltag versöhnt und die Erregungen der Strasse ins Kaufhaus gebracht als «Revolution im Reklamewesen». Diese Karikatur zeigt, wie einfach sich marktfixierte Strukturen Widerständiges einverleiben und als leere Formen ausspucken können. Es ist aber genau die Kunst, die dem Alltag Widerstand bieten muss, weil Alltag immer herrscht. Sulzer beweist dies mit Unhaltbare Zustände und zeigt, wie sich feine Spuren und Vorgänge einer Gesellschaft plastisch am Einzelschicksal sichtbar machen lassen.

Alain Claude Sulzer: Unhaltbare Zustände. 272 Seiten. Berlin: Galiani 2019, ca. 26 Franken.