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Vom Nachkommen

Tom Kummer

Ivna Žic' Debütroman «Die Nachkommende» ist mehr als eine Familiengeschichte. 

Von Isabelle Balmer
10. November 2019

Die junge Frau liegt im Nachtzug zwischen Paris und Kroatien. Auf durchgeschwitzten Laken wälzt sie sich hinter der engen Eisenhalterung ihres Kojenbetts. Ihre Gedanken kreisen um warme Sommerabenden in Kroatien, den Geruch von Schweiss, Parfüm und Sonnencrème auf der «Grossmutterinsel», die fabulierenden Grosseltern und um diese dicht bestuhlte Terrasse, auf der die Romanze mit dem verheirateten Mann begann, ohne dass sie sich berührt hätten. Ivna Žic erzählt szenisch und spickt ihren Debütroman Die Nachkommende mit rauschartig vorbeiziehenden Momentaufnahmen. Immer wieder konzentriert sich die Geschichte auf Fahrtbewegungen, Wartereien und koppelt sie an eine erbarmungslose Umwelt: «Durchsagen aus den Lautsprechern, klirrende Frauenstimmen, München, Kiel, Berlin, Verspätung, wenn man hinaustritt Hochhäuser und das Rotlichtviertel, kein Regen, nur grau». Dass sich Žic‘ Debüt wie ein Theaterstück liest, verwundert nicht; verfügt sie doch über reichlich Erfahrung als freie Regisseurin und Autorin an verschiedenen Theatern im deutschen Sprachraum, eine Tätigkeit, die ihr unter anderem den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik 2011 einbrachte.

Das Jetzt besteht in Žic‘ Roman vorwiegend aus Transiträumen, in denen das Ankommen unmöglich erscheint. Die Erinnerungen der Protagonistin an ihre Kindheit und die Sommer in Kroatien verschwimmen mit der Realität und ähneln einem haltlosen Blick aus dem fahrenden Zugfenster auf die verwischenden Konturen der Landschaft. Die Zusammenhänge der Erinnerungsfetzen sind lose. Es fehlt eine Struktur, um sie zu einem Ganzen zu fügen. Ebenso erinnert sie sich an die Hände und Augen ihres Liebhabers, die ihren Körper immer wieder in Teilstücke auseinandergeschraubt und zusammengesetzt haben: Die Achseln, die Armbeuge, das Schlüsselbein, die Ohren, den Hals.

Zur Person

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Sie lebt in Zürich und Wien.

Das Scheitern an dieser Rekomposition lotet Žic geschickt aus und überträgt die Irritation auf die Räume. Im Transitraum verharren die Figuren in der Bewegung und kommen nicht an ihr Ziel, der slowenischen Grenzkontrollposten konsolidiert eine Grenze, die eigentlich offen sein sollte, und im Schlafwagen des Zugs kann keiner einschlafen. Die Figuren, mit denen Žic im Fahrwasser dieses Settings operiert, sind keine Charaktere. Sie bleiben vorwiegend namenlos. Die schweifenden Phantasien ihrer Protagonistin kollidieren immer wieder mit lupenartigen Detailansichten des Alltäglichen wie ihrer fettglänzenden Stirn oder dem schwarzen Dreck unter ihren Fingernägeln. Der Unterschied zwischen losgelöster Phantasie und detailbehafteter Realität gewinnt einen spannungsvollen Kontrast, welcher die schablonenartigen Figuren mit Tiefgang umgibt. Žic‘ schlankes Debüt überzeugt in dieser bewusstseinsstromartigen Erzählweise und funktioniert, auch ohne dass es einen Plot im eigentlichen Sinne erzählen würde.

Im Fokus stehen die Beschreibungen des Gefühls, nie dort zu sein, wo man eigentlich sein möchte, und die Rückkehr an einen Ort, der keine Heimat ist. Während des Balkankriegs war Žic sechs Jahre alt. In ihrem Roman wählt sie Erinnerungen einer Grosselterngeneration, um die Geschichte von innerer Zerrissenheit, Flucht und Heimatlosigkeit zu erzählen. Was es bedeutet, heute von einer Fluchtgeschichte zu erzählen, die ein Vierteljahrhundert zurückliegt, lässt Žic offen. Ihr Roman ist auch eine Nachkommenschaft der preisgekrönten Romane von Melinda Nadj Abonji («Tauben fliegen auf», «Schildkrötensoldat») und Meral Kureyshi («Elefanten im Garten»). Sie verbinden die Schicksale ihrer Figuren tief mit dem Untergang Jugoslawiens und zeigen, dass die Texte der Emigrierten heute im Zielland angekommen sind. Der Balkan ist ein illusionärer Raum geworden, der durch die Mütter und Väter besetzt wird. Žic spiegelt dieses Gefüge, indem sie die Grenzen zwischen Phantasie und Realität verschwimmen lässt. Das Wiedererzählen des bereits Gesagten liest sich bei ihr wie der Versuch, die Geschichte zurückzuerlangen, von welcher die Leute glauben, sie bereits zu kennen. «Wir erzählen nicht mehr zusammen, nur noch davon», sinniert ihre Romanheldin, als sie nach Jahren ihre Jugendfreundinnen aus Kroatien wiedertrifft und trotz der gemeinsamen Sprache nicht mitreden kann. Die Protagonistin ist von der Mitautorin zur schlichten Zuhörerin geworden. Žic versucht dieses Verhältnis umzukehren und ist in diesem Sinne mehr als eine Nachkommende. Sie schreibt sich in die Geschichte ein, die von anderen bereits erzählt wurde, und wird durch ihren beachtlichen Erstling von der Zuhörerin zur Autorin.

Ivna Žic: Die Nachkommende. 164 Seiten. Berlin: Matthes & Seitz 2019, ca. 29 Franken.

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