KW33

Wenn aus einer Genfer Kindheit ein amerikanischer Krimi wird

Carole Allamand

In ihrem neuen Roman «Marathon, Florida» arbeitet Carole Allamand zwei Erzählungen aus, die auf den ersten Blick seltsam disparat zueinander stehen - sich aber bei genauer Betrachtung als ein raffiniertes Spiel zwischen autobiographischer Faktualität und literarischer Fiktion erweisen.

Von Camille Bernasconi
14. August 2019

Was hat man hier vor sich? Ein Roman, zwei Texte? Der erste ist unzweifelhaft ein Krimi, der, wie es der Titel vermuten lässt, in Marathon, Florida spielt. Im Zentrum steht Norma Salvatore, die ihre Arbeit als Krankenschwester in New Jersey aufgibt, um auf die Keys zurückzukehren. Sie nimmt eine Stelle bei der örtlichen Polizei an, um Licht in den unaufgeklärten Mord ihres Bruders Alberto zu bringen. Albertos Tod hatte die komplette Familie auf den Kopf gestellt, sie geradezu zerrissen und für den beruflichen Untergang der Eltern gesorgt. Als die Morduntersuchung wiedereröffnet wird, merkt die junge Frau, dass der Mord sich nicht, wie gedacht, aus dem Umweltaktivismus ihres Bruders erklären lässt, sondern sich hinter dem Verbrechen eine noch komplexere und schmerzlichere Wahrheit verbirgt. Der zweite Text des Romans scheint hingegen prima facie mit der Erzählwelt des ersten nichts gemein zu haben, trägt er doch autobiographische Züge und verhandelt die Kindheit der Autorin im Genf der 1970er Jahre.

Auch wenn uns diese kurze Zusammenfassung perplex zurücklässt – Marathon, Florida ist die Frucht einer besonders interessanten literarischen Vorgehensweise. Die Westschweizer Schriftstellerin und Professorin an der Rutgers University in New Jersey lässt uns das verwirrende Spiel einer Autorin entziffern, die sich der Fakten bedient, um die Fiktion zu formen. Tatsächlich stellt sich der zweite Teil als der Stoff heraus, der dazu gedient hat, den ersten Teil zu schreiben. Die Kindheit von Carole Allamand wird uns in Form von kleinen Kapiteln erzählt, die Szenen aus ihrem Alltag als kleines Mädchen darstellen. Die Überschriften dieser Momentaufnahmen stiften den Bezug zu einem Thema, Namen oder auch Ort aus Normas Untersuchung. In einer Zeit, in der der angelsächsische Roman die Dekonstruktion des kreativen Schaffensprozesses ins Zentrum des Textes stellt – man denke an Lisa Hallidays bemerkenswerten Debütroman Asymmetry (2018) oder auch an Innocents and others von Dana Spiotta (2016) – erfreut und erstaunt die Vorgehensweise einer französischsprachigen Autorin wie Carole Allamand.

Zur Autorin

Carole Allamand, 1967 in Genf geboren, lebt seit 1993 in Amerika. Die Literaturwissenschaftlerin veröffentlichte unter anderem Monographien zu Marguerite Yourcenar und Philippe Lejeune. Am Department of French der Rutgers University New Jersey unterrichtet sie zeitgenössische Literatur.

Nichtsdestotrotz muss angemerkt werden, dass Allamands Unternehmung nicht die einfachste ist und dass es ihr nicht vollkommen gelingt, die erhoffte Wirkung zu erzielen. Folgt man zunächst gerne der Einladung, Lebensausschnitte zu entdecken, die ihren Ursprung in der zuvor gelesenen Fiktion haben, so schwindet der Zauber jedoch zunehmend bei der Lektüre der Fragmente, die den zweiten Teil bilden. Unter der Redundanz des Schreibverfahrens stellt sich rasch der Eindruck ein, dass es vorrangig darum geht, in der Kindheitserzählung jene Themen zu identifizieren, die dazu gedient haben, Jahre später einen Krimi zu schreiben. Zudem überdecken die Energie und die Tiefsinnigkeit, mit der sie ihre Genfer Jugend schildert, in gewisser Weise die vorher geweckte Neugier für den literarischen Schaffensprozess, den die Schriftstellerin verwirklichen wollte.

Die Kindheit von Carole Allamand erzeugt eine Fülle von Emotionen und wird so eindringlich dargestellt, dass sie die polizeiliche Ermittlung des ersten Teils beinahe vergessen lässt. Neben dem faszinierenden Einblick in funktionsgestörte Familien, in denen manche Kinder der Generation X aufgewachsen sind, zeigt sie uns eine kulturelle Topografie des Durchbruchs der neuen Medien in den 70er Jahren. Vor allem aber verdeutlicht die Erzählung, was es bedeutet, als Mädchen in dieser Zeit gross zu werden. Da die Autorin lieber mit Jungen spielte, musste sie sich mit den erniedrigenenden Ungerechtigkeiten herumschlagen, die Mädchen vorbehalten bleiben, die ihre Puppe verschmähen. «Mein Vater hat nichts dagegen, mir Zinnsoldaten oder ein Entermesser aus Plastik zu kaufen, aber er macht sich nicht beim FC Servette lächerlich und versucht, seine Tochter bei der Fussballschule anzumelden. ‹Dafür fehlt dir etwas›, eröffnet er mir feixend.»[1]

Angesichts der Vielfalt dieser Erzählung bedauert man beinahe, dass die Genfer Schriftstellerin sich nicht auf dieses Thema beschränkt hat. Sie lässt uns nicht nur die Schweiz der 70er Jahre entdecken, sondern konfrontiert das Verhalten eines heranwachsenden Mädchens mit den gesellschaftlichen Normierungsstrukturen, denen es ausgesetzt ist. Gleichwohl bringt Carole Allamands Erzählverfahren einen kreativen Schaffensprozess zum Vorschein, der die Leserschaft in ihren Gewohnheiten überrascht. Man kann nur hoffen, dass ihr Unternehmen andere französischsprachige SchriftstellerInnen zum Spiel mit Erzählstrukturen motiviert, um uns zum Nachdenken zu bringen, anstatt uns ohne eigenes Zutun von einer zu glatten und reibungslosen Textstruktur treiben zu lassen.

Übersetzung: Judith Müller

[1] «Mon père, lui, veut bien m’acheter des soldats de plomb ou un sabre d’abordage en plastique, mais il ne se ridiculisera pas auprès du Servette F.C. en essayant d’inscrire sa fille à l’école de football. ‘Pour ça, il te manque quelque chose’, déclare-t-il en ricanant.»

Carole Allamand: Marathon, Florida. 272 Seiten. Chêne-Bourg: Les Éditions Zoé 2019, ca. 32 Franken.

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