KW31
Rache eines Stotterers

In seinem jüngsten Roman gelingt es Charles Lewinsky, die Befindlichkeit des Literaturbetriebs zu spiegeln – indem er sie einem schriftstellerisch begabten Kriminellen ausliefert.
Der Stotterer – das ist die Confessio des verurteilten Betrügers und Wörter-Virtuosen Johannes Hosea Stärckle. Dessen schriftgewordener Redeschwall richtet sich an den Padre, den Pastor der Justizvollzugsanstalt, in der Stärckle seine Strafe absitzt. Ihm schildert er seine Kindheit, die geprägt wird von der Kirchgemeinde, in der er aufwächst, und von den Eltern, die sich als ‹natürliche Feinde jedes Kindes› entpuppen. Seine unerfreuliche Kindheit ist es jedoch nicht, die Stärckle ins Gefängnis getrieben hat. Zumindest nicht direkt. In ausgleichender Gerechtigkeit – also in Kompensation seiner Sprachstörung – ist der Stotterer nämlich mit einem Schreibtalent gesegnet, das er gekonnt für seine Zwecke einzusetzen weiss. Schon als Kind entdeckt er, wie er mit geschriebenen Worten andere beeinflussen und manipulieren kann. Er perfektioniert seine Begabung, rächt sich an jenen, unter denen er aufgrund seines Stotterns zu leiden hatte und finanziert sich schliesslich mit dem Schreiben sein Leben – allerdings nicht ganz legal.
Während sich Stärckle als schreibender Rächer inszeniert, Omas qua Enkeltrick das Geld aus der Tasche zieht oder in zwielichtige Machenschaften der Gefängnis-Mafia einsteigt, schwankt man als Leser*in ständig zwischen moralisierender Verurteilung und anerkennendem Mitfiebern. Stärckle erinnert dabei an sein selbsternanntes literarisches Vorbild Felix Krull: auch er ein Schelm, den man nicht unsympathisch finden kann, rächt sich Stärckle doch schliesslich an seinen Peinigern. So kann man kaum anders, als die hämische Freude mit ihm zu teilen – und geht dem Betrüger damit selbst auf den Leim.
Denn Lewinsky lässt Stärckle mit der Macht, dem Sog der Sprache spielen. Der Stotterer erzählt eindringlich, unbarmherzig und authentisch. Aber mit nur einem Ziel: genau das zu schreiben, was die gewünschte Wirkung beim Gegenüber erzeugt. Dabei wählt er nicht selten Stoffe, die emotionalen Zündstoff enthalten. Pädophile Priester, missbrauchte Kriegsopfer, Drogenabhängigkeit oder gewalttätige Eltern – Stärckle zieht alle Register, um bei seinem Publikum Betroffenheit auszulösen. So entwickelt sich der Roman unversehens auch zu einer Literaturbetriebssatire, indem er die Fokussierung des Buchmarktes und der Preisjurys auf gesellschaftlich sensitive Sujets gegen die Gesellschaft selbst wendet.
Nicht der platonische Topos der Dichtung als Lüge – also die Manipulation unserer Wahrnehmung durch Literatur –, sondern vielmehr unser Blick auf die Literatur selbst steht dabei zur Debatte. Schliesslich stehen gewisse Bücher nicht zufällig auf der Bestsellerliste und obwohl wir, um zum Stotterer zurückzukehren, durch dessen Tagebucheinträge Einblick in die Gefühlswelt des Protagonisten erlangen, seine Intentionen kennen, können wir uns der Kunstfertigkeit seiner Texte nicht entziehen. Als staune man über die Tricks eines Zauberers, obwohl man doch weiss, dass ein Kaninchen nicht in einem Hut verschwinden kann.
Lewinsky klopft in Der Stotterer all jenen auf die Finger, die meinen, es besser zu wissen. Er tut dies auf amüsante, unterhaltende Weise gespickt mit viel Sprachwitz. Es gelingt ihm, dem Literaturbetrieb den Spiegel vorzuhalten, ohne dabei verbittert zu wirken oder seine Liebe zum fiktiven Erzählen zu verleugnen. Schliesslich ist auch für Stärckle das Schreiben mehr als bloss Mittel zum Zweck, tobt er sich doch richtiggehend aus, indem er Briefe, Tagebucheinträge oder eingestreute Kurzgeschichten fabriziert, die vor Erzähllust, vor Ideen nur so strotzen. In seiner Bekenntnisschrift scheint der Stotterer das ausdrücken zu können, wofür ihm in einem realen Gespräch einfach keine Zeit gelassen wird. Oder wie er selbst es ausdrückt:
In schwierigen Situationen bin ich schriftlich schon immer besser gewesen.
Charles Lewinsky: Der Stotterer. 416 Seiten. Zürich: Diogenes 2019, ca. 32 Franken.