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November in drei Gemälden

Charles Lewinsky

Eine Distanz, die Annäherung verspricht, eine Vollzeitbeschäftigung ohne Arbeit, ein Tod, der intensiver leben lässt. In «November» gelingt es Jean Prod’hom, diese Wahrheiten, die sich jeglicher Logik entziehen, offensichtlich zu machen.

Von Anthony Ramser
24. Juli 2019

Prod’homs im November 2018 in den éditions d’Autre Part erschienene flüssige Prosaerzählung ist «weder ein Spaziergang noch ein Ausflug, eine Wanderung, ein Tagebuch, eine Irrfahrt, eine Suche oder eine Reise, sondern ein bisschen von alledem». Sie ist auch, und das vor allem, eine Freundschaft mit einem alten Mann, S., dessen Einfachheit und Genauigkeit die Erzählung bis zum Schluss durchziehen. S. will sich die Zeit nehmen zu sterben – in aller Bescheidenheit, ohne Hast, alleine. Man versteht ihn, denn die eigenen Gedanken vermischen sich immer mehr mit Prod’homs Worten – und am Mittwoch, den 8. November, bricht man «mit einem mageren Rucksack auf dem Rücken» in Riau auf, um sich der Welt zu nähern, «die S. verlassen würde.»

Diese Welt – man fühlt sie, man hört ihr zu, man taucht in sie ein, man sammelt sie Stück für Stück auf, man verschmilzt mit ihr wie mit einem Gemälde, das man zum Leben erweckt. Schritt für Schritt.

Der Talent, die Venoge und ihre Zuflüsse nahmen das Zentrum des Gemäldes ein, umgeben von Nebelschwaden, Erde, die schwarz war vom Pflügen, Rauch von den Herbstfeuern. Das Gemälde neigte sich zur Seeseite.

Tatsächlich kann die Stärke dieser Erzählung in drei Gemälden zusammengefasst werden: in einem unscheinbaren Stillleben, einer Karte des Seelandes, die man sich vorstellt, und einem «St. Augustin», der S. bis zur letzten Seite seines Lebens begleitet.

Ein Stillleben mit Honig- und Wassermelone

Das Stillleben treffen wir bei unserer dritten Etappe in La Sarraz, im Hôtel de la Croix-Blanche, dessen Bar einer «Las Vegas Filiale» ähnelt, an der Wand, zwischen einer Berglandschaft und dem Sacré-Cœur hängend.

Das Gemälde widerspiegelt die Stimmung der Herbstlandschaften, die man während der zwölftägigen Reise durchwandert. Die Natur bereitet sich auf den langen Winterschlaf vor, sie hält die Zeit an und verbirgt das Leben, sie zwingt das Auge, nach seltenen Farben zu suchen, und den Menschen, seinen Regenschirm zu öffnen. Prod’homs Beschreibungen sind der Ausdruck eines Gemütszustandes: vorbeischlendern und staunen. Trotz der Müdigkeit und des Regens sucht man in dieser herbstlichen Natur – wie auch im Stillleben – nach Bewegung und diesen flüchtigen, aber ewigen Augenblicken, die uns ganz plötzlich in die Welt befördern: vorbeischlendern und staunen.

Zur Person

Jean Prod’hom, 1955 in Lausanne geboren, lebt seit 1990 im Jura. Er ist Lehrer in Mont-sur-Lausanne und betreibt seit 2008 seinen täglichen Blog www.lesmarges.net. Vor Novembre veröffentlichte er bereits Tessons (2014) und Marges (2015).

Mit Honig- und Wassermelone evoziert das Stillleben ebenfalls ein Memento mori, das in der ganzen Erzählung zwischen den Zeilen durchschimmert. Chantemerle, das Altersheim, in dem S. seinen Lebensabend verbringt, wird immer wieder ins Gedächtnis gerufen und ist ständig präsent, wie der tägliche Wetterbericht. November erweist sich dabei als ein Gedicht über das Ende, das uns dazu einlädt, diesen schwierigen Monat und die ihm vorhergehenden schätzen zu lernen – vor dem Ende des Jahres, dem Ende des Lebens.

Eine Karte des Seelandes (zum Rubbeln)

Die Leser des Blogs lesmarges.net werden die Genauigkeit wiedererkennen, mit der Prod’hom das Wesentliche eines Tages, eines Gedankens, einer Landschaft einfängt. Dieses Mal nimmt uns der Poet mit in Richtung Solothurn, ins Drei-Seen-Land. In den Norden, dahin, wo das Wasser allgegenwärtig ist, «dahin, wo die Gegenwart stottert, die Zukunft zögert und die Vergangenheit sich hinzieht wie eine Fermate».

Der Westschweizer Autor bleibt sich und seiner Suche nach der Schönheit in Kleinigkeiten treu: Belangloser Krimskrams, der die Substanz der Welt in sich vereint wie in seinem ersten Werk Tesson (2014), der auf den Wegen herumliegt, die man zurücklegt, am Rande der Flüsse und der Gesellschaft, wie in Les Marges (2015).

Der einsame Spaziergänger verleiht diesem kartographischen Gemälde Tiefe. Indem man die Oberfläche freirubbelt, um seine Geschichte aufzudecken und es mit bunten Träumereien zu füllen, erweckt man es im Kopf zum Leben.

Der Traum führt nirgendwo hin; er gibt der Landschaft, die wir nicht mehr sehen, weil wir sie zu oft gesehen haben, ein Gesicht; der Traum schenkt Spielraum, gibt der Welt zurück, was die Gewohnheit ihr weggenommen hat, gerade genug, damit sie wieder zittern kann.

November führt uns an den Ufern entlang und durch die Geschichte des Seelands, durch diesen Mikrokosmos aus Mäandern, den die Menschen aus den Justizvollzugsanstalten begradigen, genau wie die Justizvollzugsanstalten die Menschen begradigen.

Ein «St. Augustin»

Im Zimmer von S. hängt nur ein Bild an der Wand: St. Augustin, gemalt von Carpaccio. S. will, wie dieses Vorbild, den Moment, der nur einem selbst gehören sollte, diese «Kunst, die nur ein einziges Mal ausgeübt wird», alleine erleben. Der Tod ist weit davon entfernt, ein dunkles Thema zu sein, vielmehr ist er eine absolute Freiheit, eine Quelle der Erinnerungen, eine Einladung an die Lebenden, «vorbeizuschlendern und zu staunen».

Während man mit Prod’hom «die andere Seite durchwandert, das Leben zum Greifen nah», plappert man mit einem Kind aus Lussery, überrascht ein echtes Teichhuhn am Ufer der alten Aare und beobachtet ein kleines Mädchen, das in einem verlassenen Viertel von Studen schaukelt. «Es gibt wirklich keinen Grund, zu verzweifeln.»

Während S. unter dem Schutz von St. Augustin steht, schreiten wir «mit schweren Schritten, wie mit bleiernen Sohlen», von denen wir uns gewünscht hätten, «sie seien aus Wind», voran und treffen dabei manchmal auf Rousseau oder Tolstoi, Louis Favre oder Robert Walser, Michel d’Yvonand oder eine alte Dame aus Bargen. Für einen kurzen Augenblick flüchten wir vor unserer nachdenklichen Einsamkeit, um unsere Gedanken mit denen der anderen Bewohner dieser Welt erschallen zu lassen.

Ein letztes Gemälde

Die drei Bilder laufen zusammen und verschmelzen in einem einzigen Gemälde, das von S. hinterlassen wird. Eine letzte überwältigende und von Sinn geradezu überlaufende Nachricht – die man den Leser selbst entdecken lassen möchte. Mit November verlassen wir die Zeit unserer Uhren, um den Spuren dieses Herbstwanderers zu folgen, der vorbeischlendert, denkt, staunt und schlussendlich lebt.

Übersetzung von Judith Müller. Die französische Fassung dieser Besprechung erschien zuerst auf «L’Année du livre».

Jean Prod’hom: Novembre. 320 Seiten. Genève: éditions d’Autre Part 2018, 30 Franken.

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