KW18
Faszination Brainfuck

Nach zwölf Tagen vergriffen und eine Lawine von Feuilletonbeiträgen losgetreten: «GRM Brainfuck» ist schwer eingeschlagen. Dabei fesselt der dystopische Roman genau durch die Schwere, die sich beim Lesen einstellt.
Sibylle Bergs neuester Roman GRM: Brainfuck zerschreibt in einer 640-seitigen tour de force jede utopische Perspektive auf sozialen und technischen Fortschritt. Geprägt von Gewalt, Depressionen und fast kompletter Hoffnungslosigkeit, bietet der Text eine zutiefst dystopische Gegenwarts- und Zukunftsperspektive, wobei Erzählweise und Struktur die eigentliche Handlung zunehmend überlagern und den Versuch, eine einfach verdauliche Bilanz zu ziehen, gänzlich verunmöglichen.
Warum genau Grime? Oder anders gefragt: Worin besteht die Relevanz eines Musikstils, der vor allem in Grossbritannien produziert, veröffentlicht und gehört wird, für einen deutschsprachigen, dystopischen Roman? Da wäre zum einen die relativ simple narrative Funktion von Grime als wiederkehrendes Motiv: Musik als Alltagsflucht, als potenzieller Hoffnungsträger. Die Hauptpersonen Don, Hannah, Peter und Karen wenden sich wiederholt den geliebten Musikvideos zu, wenn ihr grauenhaftes Leben sich einmal mehr von seiner schlimmsten Seite zeigt. Und das tut es oft: Bereits in der englischen Kleinstadt Rochdale besteht der triste Alltag der Kinder vor allem aus Gewalt und Hoffnungslosigkeit und jeder potenzielle Ausweg entpuppt sich als weiteres Martyrium. Sowohl die Flucht in die Grossstadt London als auch die Ablenkung durch den ohnehin gänzlich durchkommerzialisierten Grime dienen dem Text nur als weiteres Vehikel, um jede utopische Hoffnung auf Erlösung niederzuschmettern. Als ewige Aussenseiter sehen die Jugendlichen zu, wie die britische Gesellschaft in Populismus, Totalüberwachung und kompletter sozialer Verwahrlosung versinkt. Die Lieder, die Videos wiederum sind völlig inhaltsleer, die Künstlerinnen und Künstler genauso zynisch und brutal wie alle anderen. Der Vorschlag von Don, zur Auflockerung der Stimmung die eigenen Lieblingslieder nachzurappen, muss dann eben so kläglich scheitern wie der Versuch, die Ersatzfamilie gewordene Viererkonstellation zusammenzuhalten.
Soweit, so deprimierend. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber eine zweite, wichtigere Parallele zwischen Grime und GRM, die mit Handlung und Figuren nur sekundär zu tun hat. Analog dazu, wie sich Grime als Musikstil präsentiert, sind auch Erzähl- und Schreibstil des Romans gestaltet: Wütend, abgehackt, nervös und vor allem enorm schnell. So werden Sätze mittendrin abgebrochen, um aus der Perspektive einer anderen Figur weitergeführt zu werden, Handlungsstränge werden abrupt verlagert und die oftmals ohnehin schon auffallend kurzen Kapitel bisweilen gar nicht erst zu Ende geführt. In Kombination mit dem zahlreichen Figureninventar entfaltet sich so eine narrative Konstellation, der GRM für die Leserin eigentlich extrem unzugänglich machen müsste. Dieser Eindruck stellt sich bei der Lektüre aber nie ein, im Gegenteil: Die Spannung bleibt konstant und die anhaltende Distanz zwischen Erzählstimme und Figuren verstärkt ihrerseits die morbide Faszination, die die Kaskade von Verrohung und Zynismus transportiert. Der Text entwickelt dadurch eine erzählerische Dynamik, die nicht nur in ihrem Tempo an einen Grime-Song erinnert, sondern vor allem auch dadurch, dass sie die zunehmende Isolation und Hoffnungslosigkeit der Figuren durch die Sprache greifbar machen kann.
In dieser Verzahnung von Handlung und Erzählung liegt dann auch die grösste Stärke von GRM. Bergs gnadenlose Prosa entwickelt nachgerade ein Eigenleben und verleiht dem Text eine Unmittelbarkeit, die es schwer macht, eine Distanz zum Geschilderten aufzubauen und so das Gefühlsleben der Figuren drastisch spürbar macht. So gelingt es GRM, eine ganz eigene Faszination zu entfalten, auch wenn die Schwermut, die sich bei der Lektüre zwangsläufig einstellt, teilweise nur schwer zu ertragen ist.
Sibylle Berg: GRM. Brainfuck. 640 Seiten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019, ca. 27 Franken.