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«…das Genre, das den Trieben ihre Bilder gibt.»

Stefan Bachmann zählt sicherlich zu den ungewöhnlichsten Schweizer Gegenwartsautoren. Bei seinem Besuch in der Buchjahr-Redaktion sprachen wir mit ihm über die Bedeutung der Fantasy für die Gegenwartskultur, die Erlösung von der Aufklärung - und über seinen jüngsten Roman «Palast der Finsternis».
Zunächst einmal: Deine drei Romane sind allesamt dem Genre zuzurechnen, das man «Fantasy» nennt? Welchen Zugriff auf die Realität ermöglicht Dir die Genrewahl?
Bücher sind ohnehin nie realistisch, unabhängig davon, zu welchem Genre sie gehören. Auch vorgeblich «realistische Literatur» ist nicht wirklich realistisch. Dort hat man in gleichem Masse die Sicht eines Autors auf Situationen und Orte, und dieser Sicht ist eher selten objektiv. In dem Sinne spielt es keine Rolle, ob man eine Handlung in dieser oder in einer anderen Welt verortet. Das Endresultat ist das Gleiche, aber bei Fantasy muss man durch ein Labyrinth gehen und einen grösseren Umweg machen, um dorthin zu kommen – und das interessiert mich.
Bist Du mit Vorurteilen konfrontiert, was das Genre betrifft?
Die Vorurteile, die ich schon gehört habe, hatten mehr mit meinem Alter zu tun. Ich glaube, bei manchen Lesern gibt es die Vorstellung, dass man als Autor ein gewisses Alter haben muss. Es stört mich, wenn Bücher anders bewertet werden, wenn ein junger Mensch sie geschrieben hat – nur, weil man denkt, dass Junge nichts im Kopf haben. Aber man hat auch als älterer Mensch oft nichts im Kopf. Ältere Leute schreiben auch schlechte Bücher. Vorurteile über Fantasy kamen mir bisher nicht viele entgegen. Das liegt wohl auch daran, dass die meisten meiner Leser Fantasy-Leser sind. Im deutschsprachigen Markt mag das sich etwas anders verhalten; das Buch wurde hier auch anders vermarktet – nicht so klar als Jugendbuch, wie das in Amerika der Fall war. In Amerika wird Fantasy weniger stigmatisiert als hier und gehört eher zum Mainstream.
Was die Stigmatisierung angeht: Abgesehen vom Vorwurf des Eskapismus haftet der Fantasy ja seit den 60ern auch der Verdacht an, sie sei protofaschistisch, da sie gezielt verkürzt, antirational vorgehe. Im letzten Jahrzehnt lässt sich jedoch spürbar der Einzug der Fantasy in den ästhetischen und intellektuellen Diskurs wahrnehmen; als Marker dienen nicht zuletzt Game of Thrones oder Kazuo Ishiguros The buried giant. Woher kommt dieser Wandel?
Ob es an unserer Zeit liegt? Fantasy war ja schon immer in der Lage, komplexe politische Gegenwart erzählbar werden zu lassen. Lord of the Rings reflektiert ja auch die Geschehnisse des 2. Weltkriegs. Jenseits der Geschichtsmetaphorik erkennt man vielleicht aber auch, dass in diesem Genre Dinge verarbeitet werden können, die woanders aussen vor bleiben. Also: Vielleicht ist in diesem Jahrtausend die Auseinandersetzung mit unseren Triebstrukturen wichtiger geworden, und gerade deswegen reüssiert die Fantasy, denn das ist natürlich das Genre, welches vor allem den Trieben ihre Bilder gibt. Das Stigma wird man trotzdem nicht ganz los: Ishiguro ist ja das beste Beispiel – der hat sich bei der Fantasy bedient, aber natürlich unter der Prämisse, dass er dem Genre gleich die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit abgesprochen hat.
Was kann Fantasy nicht?
Fantasy braucht immer zwingende Bezugspunkte in der Erlebenswelt der Leser. Das Erfolgsgeheimnis von «Harry Potter» ist nicht zuletzt darin zu suchen, dass die dort geschilderte Welt an der Oberfläche genau die Dinge beinhaltet, die Kinder ab dem siebten Lebensjahr bereits kennengelernt haben. Wenn es zu bizarr wird, dann kommt es zu Störungen dieser Realitätsbezüge. Die Fantastiktheorie hat es ja auf diese Störungen abgesehen.
Würdest Du mit Blick auf Todorovs Begrifflichkeiten sagen, dass Fantasy – im Gegensatz zur Fantastik – ein Genre ist, das zur Stabilisierung des Bewusstseins oder zumindest nicht zu dessen Verunsicherung beitragen soll?
Verallgemeinern kann man das nicht.
Kommen wir einmal zu Deinem jüngsten Roman Palast der Finsternis. Würdest Du unserem Eindruck zustimmen, dass sich der Text sehr am Film orientiert? Akzent auf räumliche Bewegung, viele Schnitte, serielle Actionsequenzen – wir kamen da eigentlich sofort auf cineastisches Erzählen.
Ja, das Buch spielt kaum im Kopf der Charaktere, sondern es ist fast alles in die Umgebung verlagert. Ich finde es interessant, dass man so den Charakteren sehr nahekommt, ohne dass viel Zeit mit Monologen verbracht wird. Filme haben mich beim Schreiben inspiriert – auch Filme, die an Computerspiele angelehnt sind wie etwa Resident Evil. Palast der Finsternis spielt auch vor dem Hintergrund von Filmen wie Cube, The Maze Runner und The Hunger Games, gerade in Bezug auf das Verschlossen- und Eingeschlossen-Sein. Dazu kamen Filme wie die Indiana Jones-Reihe, etwa bei der Kombination von Historischem und Modernem. So ist das Buch schliesslich recht surreal geworden.
Kannst Du auch literarische Einflüsse festmachen?
Zwar hatten die Filme stärkeren Einfluss, aber viel kommt auch vom amerikanischen Young Adult-Genre. Gerade der Schreibstil orientiert sich daran, mit den kurzen Sätzen und dem Ich-Erzähler. Vor allem das actionlastige Sub-Genre von YA beeinflusste mich, wie etwa Divergent oder The Hunger Games.
Stichwort YA: Wie schreibt man für «Young Adults»?
Ich versuche zu schreiben, was ich als Kind, als Jugendlicher gern gelesen hätte. Die Leserschaft kenne ich nicht persönlich, also bin ich das Publikum. Das klingt egozentrisch; ich finde aber, dass nur so authentisches Schreiben möglich ist. Natürlich ist YA-Literatur aber auch strukturell kodiert: Die Szenarien vom Eingeschlossen-Sein, den Fallen, die überall lauern – das sind schon irgendwo Metaphern für die universelle Erfahrung der Jugend, des Ausbruchs, des Gangs ins Dunkle.
Also arbeitest Du schon mit Schemata?
Nicht durchweg, aber im Palast der Finsternis kommt das etwas stärker zum Tragen. Ich wollte etwas machen, das mit meinem früheren Schreibstil nichts zu tun hat, ich wollte mit Tropen und Schemen experimentieren. Also ist das Buch auf manche Weisen recht generisch, mit die in YA so beliebten kurzen Sätzen und Ausdrücken. Es gibt sicher auch Leute, die sagen, Die Seltsamen sei auch generisch, aber für mich war Palast der Finsternis ein neuer Weg. Das Buch an sich ist nicht wirklich experimentell, aber für mich persönlich war es ein Experiment. Es war schwer zu schreiben, ich brauchte dafür sehr lange.
Unterschied sich der Entstehungsprozess von Palast der Finsternis von dem Deiner letzten Bücher?
Ja, jedes Buch schreibt sich anders, auch das, an dem ich jetzt gerade bin. Ich habe das Gefühl, dass man bei jedem Buch einen neuen Ansatz finden muss und neu lernen muss zu schreiben. Bei meinem ersten Buch schrieb ich ungezwungen vor mich hin, einfach aus Spass und ohne Deadlines. Nachher wurde das Schreiben zum Job, aber ich versuche, zurück zu diesem ungezwungenen Schreiben zu kommen. Obwohl man am Anfang wohl objektiv schlechter schreibt, finde ich, dass solches Schreiben einen Charme in sich hat, dass man mit schlichtes Können nicht immer reproduzieren kann.
Du schreibst auf Englisch und lässt die Texte dann ins Deutsche übersetzen.
Ja. Ich habe jetzt allerdings auch einmal etwas für das Schweizer Radio auf Deutsch geschrieben. Es ist wirklich ganz anders, wenn man in einer neuen Sprache schreibt – als ob man neu zu schreiben lernt. Wenn ein Buch übersetzt wird, wird es zu einem anderen Buch. Ich könnte nicht das gleiche Buch auf Deutsch und auf Englisch schreiben.
Wenn wir uns einmal bei den Bildern aufhalten, die Dein Text dem Selbsterleben von Jugendlichen stiftet – wie steht es da etwa mit der wohl interessantesten Figur des Romans, dem «Schmetterlingsmann»? Das ist ja – wie der Name bereits verrät – ein Wesen im Übergang.
Der Schmetterlingsmann unterscheidet sich von den Mischlingswesen meiner ersten Bücher. Dort stand die Erfahrung, zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen und zu leben, im Zentrum. Mit dem Schmetterlingsmann jedoch konnte ich mich nicht identifizieren, er ist ein ambivalenter Bösewicht. Andererseits: Gerade weil sie so lange unsichtbar bleibt, handelt es sich natürlich auch um eine Es-Figur, in der das Tierische und das Menschliche sich vereinen. Damit können Jugendliche natürlich viel anfangen.
Die Figur ist ja auch ganz eminent verknüpft mit der Aufklärung: eine Kreatur der Ratio, geschaffen im Schatten der Französischen Revolution, die aber gerade in ihrem Beharren auf der vernünftigen Einrichtung der Welt aus dem Verborgenen heraus die Welt über Jahrhunderte mit Krieg überzieht…
Das ist im Grunde der «pinnacle»; ein Wesen, das zum Höchsten gehört, was Menschen herstellen können. Gerade weil diese Figur aber so nahe an der Perfektion ist, weil sie fast ganz aus Effizienz besteht, wird sie dem Menschen natürlich unverständlich. Man sperrt solche Kreaturen weg, wir ertragen sie nicht. Was das über unser Verhältnis zur Vernunft sagt – und ob die Vernunft nicht dialektisch umschlagen müsste in Unterdrückung, wenn unser Verhältnis zu ihr ein anderes wäre: vielleicht.
Lesen wir den Plot einmal streng, dann könnte man natürlich schon von einer Erlösung der Neuzeit sprechen.
Inwiefern?
Nun ja: Man muss zu den Toten, den für die Oberwelt bereits Gestorbenen hinab, um …
… dort zu lernen, wer für das politische Geschehen seit 1789 eigentlich verantwortlich ist – und kann es lösen. Moralistisch gelesen wäre das sicherlich so.
Wo wir jetzt schon von Ober- und Unterwelt sprechen: Welche Rolle spielt eigentlich der Reiz am «world building»?
In der Fantasy ist der sicher stärker ausgeprägt als in anderen Genres, da muss man ja ihre eigentliche Inventio suchen. Mich begeistert das auch, wobei mich weniger die Kreaturen und vielmehr die «environments» reizen. Landschaften, der Aufbau von Welten haben mich immer schon fasziniert und aus ihnen entwickelt sich eigentlich das Wesentliche. Es gibt natürlich auch Fantasy, die sehr charakterbezogen arbeitet. Aber gerade, wenn man mal Tolkien nimmt: Der arbeitet schon sehr genau an den «foundations» seiner Welt, dadurch bekommt Lord of the rings erst seine atmosphärische Tiefe.
Kann man die definieren?
Sagen wir es so: Es geht gerade nicht darum, was «gezeigt» wird, sondern um die Schichten, die unterhalb der eigentlichen Erzählung liegen. Man bekommt die nur ausschnitthaft zu sehen, aber man führt sie als LeserIn immer mit.
Also ist Fantasy erst einmal Arbeit an dem, was bei Genette «Diegese» heisst?
Wenn damit gemeint wäre, dass es um Arbeit an dem geht, was man in der Lektüre fühlt, aber nicht liest: dann ja. Fantasy beansprucht schon viel Energie zur Schaffung der Leerstellen, die dann erst im Bewusstsein der LeserInnen ausgefüllt werden.
Also eine Kunst des Unsichtbaren.
Ja, wie die Musik.
Mit der Du bestens vertraut bist.
Ja, ich habe Musik studiert, aber für den Moment bin ich damit fertig. Ich bin mir noch nicht sicher, wie es nun weitergeht und wie die Priorität zwischen der Musik und den Büchern jetzt liegt. Aber diese Unsicherheit gehört wohl einfach dazu.
Beeinflussen die Musik und Deine musiktheoretischen Kenntnisse Dein Schreiben?
Ich denke schon. Viele Schriftsteller machen Musik und ich kenne viele Musiker, die auch schreiben – da besteht ein Zusammenhang. Sowohl zu schreiben als auch Musik zu machen, heisst, eine Geschichte zu erzählen – entweder durch das Papier oder durch ein Musikinstrument. Bei beiden muss man etwas Unsichtbares finden.
Was liest Du gerade?
Don Quijote, auch das ist für mich Fantasy, darüber könnte ich jetzt unendlich reden. Und dann noch The Glass Town Game von Catherynne M. Valente, ein Jugendbuch, das die Geschichte der vier Brontë-Geschwister verhandelt – die ja auch als Jugendliche alle recht komplexe Fantasywelten entworfen haben.
Und an was arbeitest Du zur Zeit?
Das nächste Buch ist schon auf dem Weg. Es ist gerade noch 60000 Wörter zu lang, die muss ich kürzen. 2019 soll es kommen.
Das Gespräch führten Ann-Sophie Bosshard und Philipp Theisohn.
Stefan Bachmann: Palast der Finsternis. Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer. 397 Seiten. Zürich: Diogenes 2017. 24 CHF.