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Brückenbauer

Zürich liest. Diese Woche. Die Limmatstadt ist aber auch sonst Heimathafen und Umschlagplatz internationaler Literatur.
Zürich – dieser Name erweckt von Vancouver bis Wien nicht zu Unrecht die Vorstellung einer Handelsstadt. Schon seit Jahrhunderten zirkulieren am Zürichsee nicht nur Devisen und Valuten, sondern auch Texte aus aller Herren Ländern. Als Drehscheibe für internationale Literatur hat sich Zürich spätestens seit den Tagen von Bodmer und Breitinger hervorgetan: 1762 erschien hier die erste deutsche Shakespeare-Übersetzung, 1944 erstmals Herman Melvilles Moby Dick. Risikofreudige Verleger und innovative Übersetzer haben die Stadt, in der es fast ebenso viele Verlage wie Banken gibt (das Verhältnis war schon mal schöngeistiger, hält sich mit 69:82 aber noch immer im grünen Bereich), zu einem Umschlagplatz für Literatur aus aller Welt werden lassen. Systematisch rekonstruiert wurde diese Geschichte noch nicht. Zeit für einige Schlaglichter.
Zürcher Exile
Als 1916 in der Spiegelgasse eine Gruppe emigrierter Dichter, Maler und Philosophen zusammentrat, war auch der junge Hottinger Max Rascher vor Ort. Der spätere Verleger C. G. Jungs bot den vor dem Weltkrieg in die Schweiz geflüchteten Künstlern ein publizistisches Forum. Ein Jahr vor Kriegsende erschienen in seinem Verlag drei Klassiker des internationalen Pazifismus: Iwan Golls Requiem für die Gefallenen von Europa die deutsche Erstausgabe von Henri Barbusses Feuer sowie Menschen im Krieg von Andreas Latzko.
Ähnliches Engagement bewies rund 20 Jahre später der von Thomas Mann als »Lieber Opi« adressierte Emil Oprecht (1895–1952). Sein weltweites Netzwerk lässt sich an der Anthologie Dichter helfen von 1936 ablesen: Shalom Asch, Selma Lagerlöf, André Malraux, Bernard Brentano und Upton Sinclair Oprecht Dichter helfen 1936überließen Oprecht ihre Texte, um Geld für vertriebene Intellektuelle zu sammeln. Während des NS-Regimes veröffentlichte Oprecht die einschlägigsten Faschismusanalysen seiner Zeit. Meilensteine wie das vom Zürcher Rudolf Jakob Humm übersetzte Werk Der Fascismus. Seine Entstehung und Entwicklung (1934) des Italieners Ignazio Silone oder Ernst Blochs Erbschaft dieser Zeit (1935) wären ohne Oprechts Verlag an der Rämistrasse 5 ungedruckt geblieben.
Dass Zürcher Verleger wie Rascher und Oprecht – entgegen einer allgemeinen Skepsis – den Geflüchteten ihre Tore öffneten, ist keineswegs auf die Zeit der Weltkriege beschränkt. Bereits 100 Jahre früher, nach den Aufständen von 1830 und der Niederschlagung der Liberalen nach 1849, war die Stadt am Zürichsee ein Rückzugsort für Autoren verschiedener Länder. Das Litterarisches Comptoir Zürich und Winterthur, 1841 von Julius Fröbel ins Leben gerufen, wurde zum Sammelpunkt politischer Literatur. Hier erschien neben Werken Georg Herweghs und Ludwig Feuerbachs zwischen 1843 und 1845 beispielsweise die in Preußen verbotene Geschichte der zehn Jahre von 1830 bis 1840 von Louis Blanc erstmals auf Deutsch.
Zürcher Brücken
Wieland ShakespeareNeben den Initiativen einzelner Verleger sind es die Zürcher Übersetzerinnen und Übersetzer, die den literarischen Grenzverkehr ihrer Stadt über die Landesgrenzen hinaus belebt haben. Der namhafteste von allen bleibt Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Dieser Fürsprecher der englischen Literatur übertrug 1732 Miltons Epos Paradise Lost und publizierte 1741 bei Conrad Orell und Comp. die erste deutsche Fassung von Alexander Popes Essay on Criticism. Im selben Haus erschienen etwa zwanzig Jahre später William Shakespeare Theatralische Werke. Christoph Martin Wieland hatte sich, in Zürich von Bodmer dazu überredet bzw. angeregt, an die erste deutsche Übersetzung des Engländers gewagt. Weniger offensichtlich als im Falle der politischen Flüchtlinge steht das Übersetzen und Verlegen fremdsprachiger Literatur schon bei Wieland unter politischen Vorzeichen. Die Hinwendung zur angelsächsischen anstelle zur französischen Literatur fällt mit einer Abkehr vom französischen Absolutismus und mit der Orientierung am englischen Parlamentarismus zusammen. Sie ist aufs Engste mit einem politischen Versprechen verbunden.
Im Schatten dieses folgenreichen Projekts der Zürcher Aufklärer haben besonders im vergangenen Jahrhundert zahlreiche Zürcher Übersetzerinnen und Übersetzer gewirkt: Elisabeth Schnack (1899–1922) als maßgebliche Übersetzerin William Faulkners, der in Prag geborene Fritz Bondy alias N. O. Scarpi als Übersetzer von Bestsellern wie George Orwells Die Farm der Tiere, Robert Lewis Stevensons Die Schatzinsel, Oscar Wildes Das Gespenst von Canterville und Jules Vernes 20’000 Meilen unter dem Meer sowie Robert E. Konrad als Übersetzer von Emily Dickinson. Dass die Namen einiger dieser Übersetzer umso viel weniger bekannt sind als die der Autoren, reflektiert die prekäre, jedoch weit verbreitete Annahme vom Übersetzen als einer sekundären Tätigkeit.
Zürcher Verlage
Besondere Intensität erlebte die Verbreitung internationaler Literatur im Zürich der 1940er-Jahre, einer Phase zahlreicher Verlagsgründungen. Für diese Dynamik beispielhaft sind zwei gemeinhin bekannte, aber auch ein zu Unrecht vergessenes Verlagsprojekt: 1944 lancierte der gerade gegründete Manesse-Verlag seine Bibliothek der Weltliteratur. Hier erschien 1944, besorgt vom Zürcher Fritz Güttinger, die erste deutsche Übersetzung von Moby Dick.
Im selben Jahr öffnet auch der Arche Verlag seine Pforten mit Thornton Wilders Die Brücke von San Luis Rey. Zwei Jahre zuvor riefen Selma und Luise Steinberg den nach ihnen benannten Steinberg-Verlag ins Leben, der Werke Aldous Huxleys, Ernest Hemingways, William Somerset Maughams und John Steinbecks auf Deutsch zugänglich machte.
Ein anderer Großer der amerikanischen Literatur wird 1951 zuerst im Artemis-Verlag, dann bei Fretz & Wasmuth verlegt: William Faulkner. Das wohl bekannteste Zürcher Verlagshaus für internationale Belletristik, der Diogenes-Verlag, bringt einige Jahre später die erste deutsche Taschenbuchausgabe seiner Werke. Die Übersetzungen des amerikanischen Nobelpreisträgers sind beispielhaft für die kreativen Impulse, die vom Vertrieb internationaler Literatur für die Gegenwartsliteratur ausgehen. Nicht von ungefähr werden Peter Bichsel, Hugo Loetscher und Otto F. Walter, die in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren ihre Debüts feiern, als helvetische ›Faulkner-Generation‹ bezeichnet.
Besonders umfangreiche Übersetzungen legt in den 1980er und 90er-Jahren der Amann-Verlag vor, etwa die von Ralph Dutli besorgte Ausgabe der Werke Ossip Mandelstams oder jene Fjodor Dostojewskijs von Svetlana Geier. »MERIDIANE« lautet der Titel einer Reihe, der die weltumspannende Arbeit des bis 2010 bestehenden Verlags des unlängst verstorbenen Egon Ammann bezeichnet.
Wer sich heute im literarischen Zürich umsieht, wird zu dem Schluss kommen, dass sich die internationale Ausrichtung seiner Verlage bis in die Gegenwart fortgesetzt hat. Zweifellos ist sie in manchen Fällen ein Geschäftsmodell, oft aber nicht oder nicht nur und mit viel Entdeckergeist verbunden. Man denke an die Arbeit des Unionsverlags, der nicht nur den Nobelpreisträger von 1988, Nagib Machfus, in der deutschsprachigen Welt bekannt machte, sondern ungeachtet saisonaler Interessen auch Spezialreihen wie ›Dialog Dritte Welt‹ und ›Türkische Bibliothek‹ führt. Ähnliches ist über den in Hottingen angesiedelten Dörlemann-Verlag zu sagen. 2003 von der Pessoa-Übersetzerin und langjährigen Übersetzerin des Ammann-Verlags Sabine Dörlemann ins Leben gerufen, setzt er Schwerpunkte auf die russische und englischsprachige Literatur. Und damit wären erst die bekanntesten Beispiele erwähnt.
Brückenbauer, Brückenstadt
1917, in den Wirren des ersten Weltkriegs, verglich Hugo von Hofmannsthal die Schweiz einmal mit einer „hochgespannten Brücke zwischen Nord und Süd und West und Ost“. Auf ihre geografische Lage bezugnehmend, beschreibt der Österreicher die Eidgenossenschaft als einen Ort der kulturellen Symbiose.
Jeder politische Beobachter der Gegenwart weiß um die Gegenkräfte, die aus der Schweiz keine Brücke in die Welt, sondern ein gallisches Dorf machen möchten. Vor dieser Folie ist die internationale Orientierung des literarischen Zürich sowie anderer Schweizer Städte keine Selbstverständlichkeit, sondern eine politische Aufgabe. Neue Formen der Übersetzungsförderung, etwa eine Dozentur für Übersetzung an der UZH sowie Maßnahmen des Kantons, treten heute neben bewährte Institutionen wie das Übersetzerhaus Looren. Sie sind Angebote für Einzelne und zugleich Signale für eine offene Schweiz.
Auch das Übersetzen wird traditionell mit dem Überschreiten einer Brücke, der Übersetzer gerne als ihr Erbauer beschrieben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Zürich eine Stadt der Brücken ist. Auf dem alltäglichen Weg nimmt man sie oft nicht mehr wirklich wahr, obwohl sie den Charakter dieser Stadt doch prägen. Ebenso real wie die Brücken in Zürichs Stadtbild sind die Menschen, die diese Stadt während der letzten fast 300 Jahre zu einer Drehscheibe internationaler Literatur gemacht haben. Dass die Geschichte dieser Brückenbauer wissenschaftlich noch kaum gewürdigt wurde, liegt an den Blindheiten nationalphilologischer Forschungstraditionen. Man mag die Brücken dieser Stadt, bis diese Geschichte ihren eigentlichen Erzähler gefunden hat, als ein ungewolltes Denkmal für sie nehmen.
Titelbild: Schweizerisches Literaturarchiv (SLA), Bern. Archiv des Steinberg Verlags.