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Der Abenteurer

Wieland Shakespeare

Die Physik und das Übersetzen: Bei Gianfranco D’Annas Zürcher Lesung standen zwei Wissenschaften im Mittelpunkt, die in gleichem Masse auf Exaktheit wie auf Innovation angewiesen sind.

Von Gianna Conrad
16. Oktober 2017

Einen «Abenteurer»: So nennt Roberta Gado zu Beginn des Abends ihren Gast, der nach seiner Promotion an der ETH Lausanne an das andere Ende der Welt gereist war, um in den renommierten Bell Laboratories in New Jersey nicht nur an weiteren Experimenten herumzutüfteln, sondern um jenen Ort auch zur Bühne seines 2010 erschienenen Erstlings Il falsario zu machen. (Die deutsche Übersetzung erschien 2014 unter dem Titel Albert Thebell, Physiker und Fälscher.) Im Literaturhaus Zürich stellte Gianfranco D’Anna im vergangenen September nun seinen zweiten Roman L’elettrone dimezzato (Das geteilte Elektron) vor. Es ist der letzte Termin auf seiner Lesereise, an seiner Seite sitzen die Lektorin und Kulturvermittlerin Roberta Gado und seine Übersetzerin Barbara Sauser. Ruhig und gelassen liest D’Anna mit melodiösem Tessiner Akzent, wobei es ihm gelingt, die Zeit um die Jahrhundertwende mit ihren politischen, wissenschaftlichen und sozialen Umwälzungen in das Licht der Gegenwart zu rücken. Im Gespräch mit Gado erläutert D’Anna, der auch als Physiker Rang und Namen hat (2003 widmete die wissenschaftliche Fachzeitschrift Nature seinen Forschungsarbeiten die Titelseite), wie unzählige seiner persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse aus dem Forscherleben, insbesondere Themen wie Leistungsdruck, Neid und Eitelkeit, in sein literarisches Werk einflossen.

Das Echo aus der Vergangenheit

Womit befasst sich nun L’elettrone dimezzato? Im Zentrum des Geschehens steht der Wettlauf der beiden Physiker Robert Andrews Millikan und Felix Ehrenhaft. Es handelt sich dabei um zwei Figuren, die gegensätzlicher nicht sein könnten: der eine ein vierzigjähriger, bis anhin eher erfolgloser amerikanischer Physiker mit einem starken Drang zum Spiritualismus, der andere ein junger, selbstbewusster Österreicher, der zudem mit Albert Einstein befreundet ist. Von beiden Seiten des Ozeans wetteifern die zwei Protagonisten miteinander, erzielen dabei unterschiedliche Forschungsresultate – und mit der nötigen Portion Glück gelingt es schliesslich beiden, das physikalische Rätsel des elektrischen Elementarteilchens zu lösen. Unklar bleibt jedoch, wem die fundamentale Entdeckung zuzuschreiben ist: ein geteiltes Elektron eben.

Zum Autor

Gianfranco D’Anna wurde 1960 in Zürich geboren und ist im Tessin aufgewachsen. Er promovierte 1991 in Physik an der ETH Lausanne. Gegenwärtig arbeitet er als Physikdozent und Schriftsteller.

Ein Zusammenspiel von Realität und Fiktion

Auch in seinem zweiten Roman stellt D’Anna seine besondere Fähigkeit unter Beweis, historische mit persönlichen sowie vergangene mit gegenwärtigen Ereignissen zusammenfliessen zu lassen und zu überblenden. Sein Reflexionshorizont reicht von wissenschaftlichen Revolutionen, Rebellion und Konformität, über historische Vaterfiguren bis hin zu menschlichen Leidenschaften und Freundschaften. Auch an diesem Abend versteht er es, das Publikum seine Figuren – gezeichnet von einem offensichtlichen Generationen- und Nationenkonflikt – auf ihrem Weg in die Wissenschaft und in die Ernüchterung begleiten zu lassen.

Was nicht nur beim Zuhören, sondern auch beim Lesen auffällt, sind die sehr detaillierten Schilderungen der physikalischen Experimente, die D’Anna mit dem Ziel begründet, «der Leserschaft eine sehr genaue Botschaft mit einem präzisen aber nicht technischen Wortschatz vermitteln zu wollen, die weder zu einer Diskussion noch zu einem Widerspruch führen kann». Vor diesem Hintergrund bringt natürlich auch die Übersetzung des Romans gewisse Schwierigkeiten mit sich, wie die Übersetzerin Barbara Sauser einräumt: «Beim Übersetzen musste ich mir zuerst einmal die Grössenverhältnisse der im Text genannten Dinge vorstellen. Es soll ja dann schliesslich kein Fachtext sein – das Zielpublikum sind Leute wie ich». Damit die Geschichten der Protagonisten miteinander verwoben und in einem erzählerischen Spannungsbogen zusammengehalten werden können, wurden die einzelnen Kapitel, in Episoden übersetzt, die sich wiederum jeweils nur mit einer der beiden Hauptfiguren befassen. «Denn nur so», sagt Sauser weiter, «kann ich mich in die Figuren einleben und es entsteht eine logische Sequenz, die jener der betreffenden Wissenschaft sehr ähnlich ist».

Doppelperspektive

Gianfranco D’Anna arbeitet als Schriftsteller mit der gleichen Präzision wie als Physiker im Labor. Seine Liebe zur Wissenschaft ist in seinem literarischen Werk unverkennbar und er versteht es, die Abenteuer des wissenschaftlichen Denkens ohne Verzicht auf das menschliche Dasein in Worte zu fassen. Die Physik wandelt sich für den Tessiner zu einem Spielfeld der grossen Emotionen, zu einem Wissensdiskurs, den er durch literarisches Können wie durch wissenschaftsgeschichtliche Nachforschungen der literarischen Fiktion zugänglich und lebendig werden lässt.

Gianfranco D’Anna: Das geteilte Elektron [L’elettrone dimezzato]. Roman. Übersetzt von Barbara Sauber. 224 Seiten. Biel/Bienne: die brotsuppe 2016. 26 CHF.

Zum Verlag