KW32

«Ich hasse Wendungen von Charakteren.»

Lukas Bärfuss

Es ist so weit: Frank Stremmer tritt ab. Nach seinem Rauswurf aus der PR-Abteilung einer Genfer Bank und einem sich anschliessenden Gastspiel als Impresario in seiner Heimatstadt Bielefeld durchlebt die menschgewordene Zerrüttung in «Das Jahr der Frauen», dem letzten Teil von Christoph Höhtkers Romantrilogie, noch einmal eine berauschte Achterbahnfahrt quer über den Globus. Das Buchjahr sprach mit Stremmers Schöpfer Christoph Höhtker über literarischen Sexismus, Schweizer Verhältnisse, zynische Westdeutsche, Raven - und Arminia Bielefeld.

Von Redaktion Buchjahr
7. August 2017

Christoph, schon im Vorfeld der Veröffentlichung des Buches hast Du davon gesprochen, dass «Das Jahr der Frauen» missverstanden werden könnte. Von welchem Missverständnis reden wir da?

Ich glaube, die simpelste Gefahr besteht darin, dass die Leute das Buch als solches mit dem Ich-Erzähler verwechseln. Und dessen Einstellung zum Leben…

… zu Frauen…

…zu Frauen? Ich würde sagen: zu Menschen – dass sie das eben pars pro toto nehmen.

Nun ist «Das Jahr der Frauen» ja der letzte Teil einer Romantrilogie, die um das Leben dieses Erzählers – Frank Stremmer – angelegt ist. Wie würdest Du denn das Verhältnis der ersten beiden Teile zu diesem letzten Teil beschreiben?

Man versteht «Das Jahr der Frauen» auf jeden Fall auch, wenn man die ersten beiden Teile nicht kennt. Die Story ist ja in sich geschlossen. Es gibt natürlich strukturelle Verbindungen, die helfen können, Handlungsmuster zu erkennen. Am Ende von «Alles sehen» gibt es etwa eine Szene, in der Frank Stremmer – der in diesem zweiten Teil ansonsten ja gar nicht so viel zu tun hat – aus Deutschland in die Schweiz mit einer Frau zurückfährt, mit der er dann aber gar nichts veranstaltet, obwohl nach aller Logik die Erzählung genau darauf hinausgelaufen wäre. Stattdessen versucht er es bei irgendeiner anderen Frau, die ihm zufällig über den Weg läuft – und genau in diesen abrupten, scheinbar wahllosen Umentscheidungen ist bereits das Programm vom «Jahr der Frauen» angelegt.

Was ist an der Figur Frank Stremmer so interessant, dass man mit ihr drei Romane verbringen will?

Ich finde den witzig. Er überrascht mich immer wieder auf eine gewisse Art. Ich halte den für schlauer als mich. Er ist schnell. Er ist auf eine unterhaltsame Art zynisch. Seine Weltsicht ist natürlich nicht meine, sonst hätte ich mich ja schon lange umgebracht, aber ich kann sie nachvollziehen.

Wie würdest Du diese Weltsicht konkretisieren?

Nichts ist in irgendeiner Art und Weise von Belang. Nichts hat Sinn. Alles, wirklich alles ist egal.

Welchen Zusammenhang gibt es da mit der Frauenfixierung dieser Figur?

Ich würde sagen, die Figur benutzt diese Frauenfixierung nur als Cover-Up. Das ist nur irgendein Motiv, für das sich Stremmer ganz willkürlich entschieden hat, um seinen Psychiater in der Anfangsszene zu foppen. Es hätte auch was ganz anderes sein können. Aber er entscheidet sich für «ein Jahr der Frauen» – und dementsprechend verhandelt der Roman natürlich definitiv eine Frauenfixierung.

Zur Person

Christoph Höhtker, 1967 in Bielefeld geboren, Soziologiestudium, Taxifahrer, freier Journalist, Sprachlehrer, Werbetexter. Lebt und arbeitet in Genf. Bislang erschienen: «Die schreckliche Wirklichkeit des Lebens an meiner Seite» (Berlin Verlag, 2013), «Alles sehen» (Ventil, 2015; nominiert für den Schweizer Buchpreis 2016), «Das Jahr der Frauen» (weissbooks, 2017).

Was würdest Du zu dem Vorwurf sagen, das Buch sei sexistisch?

Ich halte das Buch deswegen nicht für sexistisch, weil es den Blick auf den Sexismus gleich mitliefert. Es ist nicht nur so, dass Stremmer seinen Sexismus quasi selber von außen betrachtet, seine Zielobjekte, sprich die Frauen, tun das natürlich auch. Teilweise zumindest. Die Frauen erfassen das, wenn man so will, Skandalöse dieses Mannes absolut.

Heisst das, man erlebt also die Objektivierung der Frauen, durchbrochen wird diese aber dadurch, dass die «Objekte» sich gegen diesen Prozess zu wehren beginnen?

Vielleicht ist das zu viel gesagt, es geht ja in dem Buch nicht darum, eine Art Erziehungsprogramm aufzubauen. Es geht vielleicht eher um die Selbständigkeit der Charaktere, es sind auch vollkommen unterschiedliche Figuren, die sich da begegnen. Stremmer gerät im Laufe des Buches mitunter an Frauen, die ihm ganz offenkundig in gewisser Hinsicht überlegen sind, und er erlebt dann auch entsprechende Situationen. Es ist aber nicht so, dass jetzt im Speziellen von seinen «Opfern» ein kritischer Blick auf ihn geworfen wird, sondern vor allem von ihm selber. Das Buch ist quasi ein einziges, wahnhaftes Selbstgespräch. Stremmer kennt und lebt seinen in Manische übertriebenen, völlig kontingenten Sexismus, dennoch wird das alles auf gar keinen Fall ernstgenommen. Wie ich vorhin sagte: Dieser Mensch nimmt überhaupt nichts ernst.

Man darf in dem Zusammenhang ja auch nicht vergessen, dass Stremmer eigentlich nicht vom Eros getrieben wird, sondern von Thanatos…

Nun ja, es gibt sicherlich schlimmere Arten, seinen Selbstmord vorzubereiten. Er gibt ja auch ganz offen zu, dass die Frauen für ihn eine Form der Suizidhilfe sind. Gehen wir aber einmal vom Zentralmotiv des Buches aus: Dieser Typ hat eine Krise erlebt, die mit einer Frau zusammenhing, und dabei ist etwas mit ihm passiert. Nicht, dass man sagen könnte, es sei «etwas in ihm zerbrochen», denn Stremmer ist alles, aber kein Romantiker. Aber vielleicht war es einfach so, dass diese Frauengeschichte ihn einfach das letzte Stückchen über den Rand geschoben hat. Ich wollte aber eigentlich noch etwas zur Frage der «Objektivierung» sagen.

Ja?

Ich habe nie verstanden, warum der Begriff «Objekt» oder warum das Gefühl, ein «Objekt» zu sein, durchgängig negativ bewertet wird. Das ist doch ein zentrales Motiv, eine Voraussetzung von Sexualität, von sexueller Attraktion. Natürlich sollte niemand auf sein Objekt-Sein reduziert werden. Aber wenn diese Möglichkeit, jemanden als Objekt zu sehen, oder selber als Objekt gesehen zu werden, vollkommen rausgenommen wird, dann geht etwas verloren. Selbst Leute, die auf symbiotische Verschmelzung scharf sind, brauchen dazu zunächst einmal ein Objekt, ein wie auch immer geartetes und vor allem beobachtetes Anderes.

Kommen wir mal zu einer anderen, hochinteressanten Figur dieses Textes, die zu allerhand Identifikationsbemühungen einlädt, zu dem «begabten Juristen und charismatischen Wirtschaftsphilosophen» Raphael Gonzales-Blanco.

Um ihn vorzustellen: Das ist ein Gründer, der Executive Chairman einer hochnoblen Non-Profit-Organisation, in Genf beheimatet – nicht zufällig –, der im Laufe seines interessanten Berufslebens viele Meriten gesammelt hat, international anerkannt ist für sein karitatives Engagement. Seine Organisation ist dazu da, die «Weltkommunikation» und damit auch den Weltfrieden zu fördern. Natürlich ist der Mann ein absoluter Idiot. Ein korrupter Trottel, zu dessen Hofschranzenteam auch Stremmer gehört, für den er aber zu einer idealen Vaterfigur wird.

Stremmer muss dessen Biographie verfassen…

Ja, und nicht nur seine. Stremmer entwirft immer wieder spontan Biographien von Leuten, die ihm über den Weg laufen. Aber zurück zu Gonzales-Blanco: Die Figur ironisiert natürlich auch gewisse Genfer Verhältnisse und Strukturen.

Und wird darüber hinaus zu Stremmers Schicksal.

Könnte man meinen, da aufgrund des Starrsinns und der Eitelkeit von Gonzales-Blanco sein ganzer Tross in eine recht heikle Situation in einem nicht ungefährlichen Land gerät. Allerdings, und das finde ich an diesem Schluss – wenn ich das mal selber so sagen darf – wirklich bemerkenswert: Das eigentliche Ende Stremmers wird dann natürlich wieder durch Stremmer selber verantwortet, weil er wieder in sein altes Muster verfällt und am Strassenrand eine Frau sieht, die er irgendwie gut findet und der er in seinem Wahn hinterhersteigen möchte, obwohl draussen gerade die Kugeln fliegen und die Macheten gezogen werden. Kurzum: Stremmer kehrt auch am Ende wieder zu sich selbst zurück. Es gibt keine «Wendung» des Charakters. Ich hasse Wendungen von Charakteren, da ich sie für vollkommen unglaubwürdig halte. Stremmer bleibt dabei. Er geht absolut ungeläutert unter.

Jetzt hattest Du schon über Genf gesprochen. Welche Rolle spielen eigentlich Orte in Deinen Texten?

Nun ja, der erste Teil der Trilogie spielte sich bereits in Genf ab – und ein wenig in Zürich – und stellte das lustige Expat-Leben vor, das Frank Stremmer dort führt. Im zweiten Teil ging es um die Genese dieses Menschen, um den Ort, wo er herkommt – eine Stadt, die einen extremen Gegensatz zu Genf bildet. Und jetzt ist er wieder zurück in Genf, aber gleichzeitig zeichnet sich «Das Jahr der Frauen» dadurch aus, dass der Roman an vielen verschiedenen Standorten spielt. Das ist eigentlich eher eine Art Roadmovie. Genf bleibt allerdings der Ausgangspunkt und das Interesse wird durch das geleitet, was in Genf passiert.

Gleicht Stremmers Beziehung zu Genf der Deinen?

Ich mag Genf. Ich wohne seit vierzehn Jahren da und bin eigentlich schon beinahe Genfer. Aber ich habe mir den Blick des Aussenstehenden bewahrt, auch wenn ich im technischen Sinne kein Expat bin. Ich könnte beim besten Willen nicht behaupten, dass ich irgendwie in die Genfer Gesellschaft integriert sei. Das wäre ohnehin sehr schwierig, da die Genfer Gesellschaft bestenfalls noch rudimentär existiert. Alles andere ist fragmentiert und internationalisiert. Also: «Genfer» als Identität existiert in diesem Sinne nicht mehr. Was dann natürlich schon wieder eine eigene Identität ergäbe. Sei’s drum: Es ist angenehm, da zu wohnen, ich werde in Ruhe gelassen, ich kann mir unglaublich viele verschiedene Leute anschauen und Sprachen anhören. Ich mag die Architektur der Stadt, die Struktur der Stadt – für einen Soziologen ist das immer ein wichtiger Aspekt. Ohne Genf hätte ich auf jeden Fall diese Bücher nicht geschrieben.

Würdest Du sagen, dass Städte ihre Charaktere formen? Und dass darin auch ein Geheimnis der Figur Frank Stremmer beschlossen liegt?

Der Charakter Stremmer ist sicher nicht in Genf geprägt worden. Der hat dort ein hervorragendes Habitat erhalten, aber der Charakter ist natürlich Bielefelder, ein Produkt ganz verschiedener Sozialisationsfaktoren. Klassische Mittelklasse-Existenz, klassische westdeutsche Provinzkommune. Das, was Stremmer darstellt, ist letztendlich ein Konglomerat von Erfahrungen, die ich damals gemacht habe, von Leuten, die ich kennengelernt habe. Er hat auch zu einem relativ hohen Prozentsatz ein lebendiges Vorbild.

Geh’ mal etwas näher auf diesen Bielefelder Sozialisationskern ein.

Es war halt so, dass sich dort Anfang der 80er Jahre eine irgendwie hedonistisch-linksradikal orientierte Popperclique gebildet hatte, aus der heraus dann solche Leute wie Stremmer denkbar wurden. Das waren Leute, von denen einige meinen Weg gegangen sind, andere sind wiederum in Bielefeld geblieben. Die konnten diesen Gag-Zynismus aber nicht auf Dauer durchhalten, weil ihnen ihr eigenes Scheitern dort zu schmerzhaft vor Augen geführt wurde. Durch das bisschen Quasi-Erfolg, den man hingegen im Ausland erwerben konnte – also durch Kohle letztendlich –, konnte man es sich hingegen leisten, diese extreme Haltung aufrechtzuerhalten. Der Zusammenbruch kam dann erst später. «Das Jahr der Frauen» beschreibt wiederum das, was nach so einem Zusammenbruch passieren kann.

Können solche Biographien auch in Schweizer Städten entstehen?

Ich bin nicht ganz sicher, ein Experte für die Schweizer Verhältnisse, insbesondere die Deutschschweizer Verhältnisse, bin ich ohnehin nicht. Aber natürlich habe ich den Eindruck, dass die Humorformen in der Schweiz sich nicht mit denen vergleichen lassen, die sich etwa in Bielefeld ausgebildet hatten. Diese Konsequenz im Zynismus, Stremmers Markenzeichen, ist mir hierzulande bisher eher selten begegnet.

Liegt das an Anstandsregeln, die die Schweiz für sich hat und die man nicht übertreten sollte?

Es geht dabei nicht um Zoten oder ähnliches, sondern um eine generelle Destruktivität. Stremmer wehrt sich als Figur dagegen – und ich wehre mich als Autor auch dagegen –, da noch irgendwie etwas einzubauen, was Hoffnung spenden soll. Entscheidend ist da nicht einmal das Suizidale, sondern das untergründige Bewusstsein, dass es hinter all den Witzen nichts gibt, worauf sich eine bessere Zukunft aufbauen liesse, worauf man sich stützen könnte.

Das führt natürlich zu durchaus bemerkenswerten topographischen Umstrukturierungen. Wir hatten ja schon einmal darüber gesprochen, dass die spannenden Städte, die, in denen wirklich etwas passiert, nicht Berlin oder Hamburg sind, sondern..

… Bielefeld, Duisburg, Solingen, Hamm, Hagen – ja, in einer gewissen Hinsicht. Es ist nicht so, dass diese Städte hochgefährliche Detroit-Slums sind. Sie zeichnen sich eher, zumindest in gewissen Gegenden, durch ein stilles Vor-sich-Hinsterben aus, eine komische Form von Agonie, gepaart mit einer exquisiten Hässlichkeit. In Bielefeld etwa gibt es Strassen, in denen kein Haus dem anderen gleicht, aber jedes für sich schlimm aussieht. Nicht im Sinne von «das muss sofort abgerissen werden», aber im Sinne von halb verwahrlost, manchmal auch frisch renoviert und trotzdem verwahrlost. Man sieht den Geist der Aufgabe, der Verzweiflung, der Wut schon an den Fassaden. Und der Geist wohnt dann eben auch hinter den Fassaden. Derlei bekommt man in der Schweiz bestenfalls in irgendwelchen Agglogemeinden geboten.

Man müsste vermutlich länger suchen.

Die Schweiz verfügt natürlich schon über problematische Gebiete. In Genf etwa gibt es Gegenden, die für sich genommen schon ganz okay sind unter diesem Verfallsaspekt. Die sind dann aber eben mit Blick auf die Schweizer Verhältnisse sofort gleich wieder spektakulär. Vielleicht bieten Schweizer Universitäten dort Führungen an, um den Leuten mal die einzige Banlieue der Schweiz näherzubringen. In solchen Städten wie Dortmund, Hamm, Hagen, Oberhausen, Duisburg ist das hingegen ein Massenphänomen. Da geht es nicht um «Kriminalitätshöhepunkte», sondern um das stille Vergammeln. Neulich bin ich durch den Duisburger Hauptbahnhof gekommen – da wachsen Pflanzen meterhoch aus dem Gleisbett. Der Bahnhof wird da schon übernommen von der Natur. Und das Bahnhofsdach wurde mehrfach mit Klebestreifen repariert. Ich dachte, ich bin in Salford, nördlich von Manchester. Wo wir gerade davon reden: Ich habe die letzten beiden Tage in einem End-Achtziger, Früh-Neunziger Musikrevival verbracht. Angefangen hat es mit einer Dokufiction auf ARTE, «24 Hour Party People». Die ganze «Madchester»-Bewegung lebte da wieder auf, und ich erinnerte mich, wie unglaublich gut mir das damals gefallen hat, die «Stone Roses», die «Happy Mondays», usw. «Loose fit» – immer noch ein klasse Song. Was ich so toll fand: Du hattest da diese psychedelischen Gitarren, diese entspannte Drogenstimmung, gleichzeitig war das gut tanzbar, es ging schon in die House-Kultur rein. Diese Leute hatten einfach insgesamt einen guten Style, und dieses Gitarrenriff von «Kinky Afro» geht mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Wow. Wenn ich irgendwie Einfluss hätte, würde ich ein Rave-Revival inszenieren.

Reden wir mal über Deine Schreibsituation: Welche Vorzüge hat es, als deutschsprachiger Autor in der Westschweiz zu leben – die den deutschsprachigen Buchmarkt ja nur sehr exzeptionell beachtet?

Für mich ist das eine sehr interessante, manchmal auch etwas frustrierende Situation. Ich schreibe in einem absoluten Vakuum. Ich kriege überhaupt kein Feedback aus meinem persönlichen Umfeld. Die Deutschschweiz andererseits ist für mich so weit weg, dass für mich jede Fahrt dorthin eigentlich ein Besuch im Ausland ist. Mein literarisches Schaffen wird in Genf nicht wahrgenommen, obwohl ich vor kurzem gesehen habe, dass «Alles sehen» dort sogar in der Leihbücherei steht. Da ich resonanzlos schreibe, habe ich auch durchgängig das Gefühl, dass ich eher so ein Hobbyschriftsteller bin. Ab und zu finde ich mal eine Kritik meiner Bücher im Netz, ansonsten schreibe ich ohne jede Wirkung und Rückmeldung. Das ist manchmal frustrierend, aber ich werde dadurch natürlich auch immer verrückter, da ich absolute Freiheit geniesse.

Und es macht Dich natürlich auch frei in Deiner Entscheidung, interessante Figuren aus Deinem Umfeld zu porträtieren, da die nie davon erfahren werden. Figuren wie den «Freizeitmann» im «Jahr der Frauen»…

…den gibt es, in der Tat. Aber neulich ist er gestorben. Ich hatte erst überlegt, ob ich ihm das Buch widmen soll, aber dann dachte ich: So eine pathetische Geste, was soll das? Das nützt ihm auch nichts mehr.

Du lebst nicht vom Schreiben.

Nein, ich arbeite. Mein Wecker klingelt um halb sechs. Dann schaffe ich es, mich gegen viertel nach sechs in die Vertikale zu bewegen, dann mache ich mir Müsli und einen Kaffee, dann schreibe ich ein bisschen, und dann gehe ich zur Arbeit.

Wie sehr definierst Du dann Dein Leben über Literatur?

Jetzt zunehmend doch ein bisschen mehr. Generell ist mein Leben Arbeiten und Geldmachen und danach müde nach Hause kommen. Literatur wird jetzt langsam wichtiger, weil ich gewisse Rückmeldungen mittlerweile doch bekomme und mir das, was ich tue, etwas relevanter vorkommt. Wobei das Gefühl vollkommener Irrelevanz nach wie vor das beste Gefühl ist, um sich schreiberisch ausklinken zu können. Das geniesse ich nach wie vor. Nach dem «Jahr der Frauen» ist bereits ein weiteres Buch fertig  – «Schlachthof und Ordnung» heisst es. Darin nehme ich auf nichts mehr Rücksicht, auf keine literarische Konvention. Der Text bricht mit allem, er ist wahrscheinlich unlektorierbar. Ihn zu schreiben hat mir sehr grossen Spass gemacht. Meine geistige Freiheit ist sehr damit verbunden, dass ich vom Schreiben nicht leben kann. Trotzdem würde ich genau das natürlich sehr gerne tun.

Liest Du eigentlich Schweizer Gegenwartsliteratur?

Mein Schweizer Lieblingsbuch: «Avant de geler» von Emmanuel Pinget. Ein sehr guter Freund von mir. Ansonsten: keine Ahnung. In der Westschweiz ist natürlich Joël Dicker eine Nummer.

Und in der Deutschschweiz?

Monique Schwitter habe ich gerade über Facebook kennengelernt. Und Christian Kracht als Autor kannte ich natürlich schon vorher. Mit seinen letzten Sachen kenne ich mich nicht so aus, aber für die frühen Texte hat er auf jeden Fall meinen Respekt. «1979» – ein Klassebuch. Die Totalitarismus-Rezeption, die er da gegen Ende reingebracht hat, hat mich beeindruckt. Ansonsten kann ich wenig zur Schweizer Literatur sagen. Von Peter Stamm habe ich mal früher ein Buch gelesen. Meine Schwester hat mir das damals empfohlen.

Du warst ja im vergangenen Jahr auch für den Schweizer Buchpreis nominiert und hast da einige Kolleginnen und Kollegen kennengelernt…

Ach ja, genau: Charles Lewinsky, ein wirklicher Profi, und Michelle Steinbeck  – beide sehr nette «Kollegen». Ich muss allerdings zugeben, dass ich deren Bücher noch nicht gelesen habe. Bei Michelle Steinbeck war es interessant zu beobachten, wie sie medial verhandelt wurde – und wie sie damit umgegangen ist. Ich hatte insgesamt den Eindruck, dass sich sowohl Lewinsky als auch Steinbeck wesentlich mehr Gedanken zu ihrem Schreiberdasein gemacht haben als ich. Na ja, kein Wunder.

Was liest Du sonst so?

Ich weiss, Knausgård ist total out, aber ich entdecke ihn erst gerade. Ich bin jetzt bei «Lieben» – und ich liebe es. Ich liebe den Selbsthass dieses Typen. Diesen wirklich auf die Spitze getriebenen gottlosen Protestantismus. Damit kann ich mich sehr gut identifizieren. Und der ist so redlich in dieser Abscheu vor sich selber – da erinnert er mich fast an Stremmer. Andererseits: Stremmer hat Humor, Knausgård hingegen überhaupt nicht. Ansonsten liegt bei mir momentan noch ein Buch von James Ellroy herum. Normalerweise verlässlich amüsanter Stoff.

Wichtige Frage zum Schluss: In einer Dreiviertelstunde [das Gespräch wurde am 29. Juli aufgezeichnet, Red.] startet Arminia Bielefeld in die neue Saison mit einem Heimspiel gegen Jahn Regensburg. Was ist Dein Tipp und was liegt diese Saison drin für die Arminia?

Verrückterweise glaube ich, dass Arminia dieses Jahr wesentlich besser dastehen wird als im letzten Jahr. Immerhin haben sie mit Jeff Saibene jetzt einen Trainer mit grosser Schweizer Vergangenheit. Außerdem hat die zweite Liga insgesamt keine tabellarische Logik, da ist leistungsmässig alles sehr nah beieinander. Heute gibt es allerdings erstmal einen Dämpfer. [Anmerkung: Arminia gewann das Spiel trotz Unterzahl durch einen Treffer in der Schlussminute mit 2:1.]

Das Gespräch führte Philipp Theisohn.

Christoph Höhtker: Das Jahr der Frauen. 256 Seiten. Frankfurt a.M.: weissbooks 2017. ca. 32.- CHF.

Zum Verlag