KW31

Sprachperlen im Sand

Lukas Bärfuss

In seinem Lyrikband «sablun» öffnet der Engadiner Schriftsteller Dumenic Andry seinen Lesern die Augen für das scheinbar Banale und die Ohren für die vielschichtige Beziehung zwischen «sun e sen», zwischen Wortklang und Wortsinn.

Von Rico Valär
31. Juli 2017

Die rätoromanische Leserschaft kennt ihn aus seinen beiden Büchern und Kolumnen als feinen Satiriker der kleinen und grossen Welt sowie als Autor philosophischer Kurzprosa. In der bereits vierzigsten Publikation des noch jungen rätoromanischen Verlags Chasa Editura Rumantscha präsentiert uns Dumenic Andry knapp achtzig lang gereifte, ausgefeilte Gedichte in einer nachdenklichen und ernsten Tonalität.

Was die Qualität von Dumenic Andrys Schreiben ausmacht, sind die Kondensierung eines Gedankens oder einer Aussage in eine literarische Kürzestform (Lyrik oder Kurzprosa) und die gleichzeitige, stetige Reflexion (im doppelten Wortsinn von Nachdenken und Spiegelung) von Sprachlichkeit. Und dies vorgetragen in aller Eleganz, Leichtigkeit und Bescheidenheit. Sein literarisches Werk ist ausschliesslich auf Vallader erhältlich, dem rätoromanischen Idiom des Unterengadins. All dies sind nicht ganz einfache Voraussetzungen, um diesen Autor und sein Werk einer deutschsprachigen Leserschaft vorzustellen. Denn das, was sein Werk im Innersten ausmacht, ist unübersetzbar: Wenn er beispielsweise im Gedicht «Il mai» von der Mehrdeutigkeit des Wortes «mai» ausgeht, das sowohl den Monat «Mai» wie «nie» bedeutet, um sich darüber zu beklagen, dass es im Engadin nie Frühling wird und er sich dabei mit der Reproduktion abgedroschener Leierreime auch noch über die mangelnde literarische Qualität und die im Widerspruch zur Realität stehenden Idyllen der zahlreichen traditionellen rätoromanischen Frühlingsgedichte lustig macht, ist das für eine Übersetzung schlicht zu viel an kondensierter Be- und Andeutung.

Zum Autor

Dumenic Andry, Jahrgang 1960, stammt aus Ramosch und lebt in Zuoz. Er studierte Romanistik an der Universität Zürich und schreibt Prosa und Lyrik auf Vallader. Er publiziert in Zeitschriften und Zeitungen, schreibt und liest regelmässig für die Sendung «Impuls» am Radio Rumantsch. Als Bücher publizierte er 2002 «Roba da tschel muond» beim Verlag Artori und 2008 «Uondas» bei der Edition Mevina Puorger. Für sein Werk erhielt Dumenic Andry einen Förderpreis des Kantons Graubünden sowie einen Preis der Schweizer Schillerstiftung.

In einem anderen kurzen Prosatext aus dem Buch «Uondas» sinniert Dumenic Andry ausgehend von neuen Wortschöpfungen im Rätoromanischen für Steuerzahler, Steuerflucht und Wirtschaftsflüchtling über verschiedene Arten von Flucht und den differenzierten Umgang der Kantone mit Steuer- oder eben Wirtschaftsflüchtlingen. Die kurze Reflexion über Benennung und Benanntem lädt die Neuschöpfungen mit widersprüchlichen Bedeutungen auf, bis sie als Worthülsen implodieren. Die Sprachschöpfung des Literaten unterwandert die Wortschöpfung der Terminologen. Der kurze Essai «habito ergo boom» reflektiert die Bedeutungsschattierungen verschiedener Synonyme von «wohnen» (abitar, star, viver, esser da chasa), welche verschiedene Grade von «sich zu Hause fühlen» enthalten, in Zusammenhang mit einem Eintrag aus dem Dicziunari Rumantsch Grischun der 1930-er Jahre (abitaziun sei als Lehnwort zu taxieren, weil «hier das Einfamilienhaus die Regel ist») und der Kontroverse um Erst- und Zweitwohnungen.

Gedichte über Identität

Auch in einer ganzen Reihe von Gedichten aus dem neuen Lyrikband «sablun» geht es um das weite Thema der Identität, um das sich zu Hause oder fremd fühlen in der eigenen Haut, in einer Gemeinschaft, im menschlichen Schicksal. Das Gedicht «ester» spielt dabei mit den Lauten «sch» und «sch-t» («s» wird im Rätoromanischen vor Konsonant palatalisiert), die mit ihrem siebenmaligen Erscheinen diesem Gedicht beim lauten Lesen einen zischenden Unterton geben, der nach Orakel und unabwendbarem Fatum tönt. Meine Übersetzung möchte ich explizit als Behelfstext verstanden wissen:

ester

ester est

ed ester

restast

sco fin qua

eir a chà

fremd

fremd bist du

und fremd

bleibst du

wie immer schon

auch zuhaus‘

Drei Gedichte finden Worte für die zutiefst menschliche Angst vor fremdbestimmtem Leben und zugeschriebener Identität:

na chi

na chi

cha tü est

be

da chi

e tschai

faina no

restar

i’ns mettan a cour

da restar

inavant

quels cha no

nun eschan

mâ stats

ed eir els

as dan

tuotta fadia

e darcheu

e darcheu

at laschast büttar

adöss

lur rait

tschüf laint

stast a dombrar

anzas

e sömgiast

da curtels…

nicht wer

nicht wer

du bist

nur

von wem

und den Rest

erledigen wir

bleiben

sie legen uns nahe

weiterhin

jene zu bleiben

die wir

nie

gewesen sind

und auch sie

geben sich

alle Mühe

und wieder

und wieder

lässt du dir

ihr Netz

anwerfen

gefangen

zählst du

Schlingen

und träumst

von Messern…

Sandgedichte

Der Titel von Dumenic Andrys neuem Lyrikband, «sablun» (Sand), ist schlicht und weckt doch eine Reihe von Assoziationen und Erwartungen. Sand ist ein ambivalentes Material: weich und hart, schwer und leicht, trocken und nass, wertvoll und wertlos. Als formbare Materie kann Sand dazu dienen, etwas zu schaffen (Sandburgen zum Beispiel), als geglättete Oberfläche kann es dazu dienen, etwas zu schreiben. Sand ist pulverisierte Materie und damit immer auch kurzlebig und vergänglich – so ist es verwandt mit Staub und Asche, alle drei wichtige Elemente in der Literatur. Bei Sand erinnern wir uns an Paul Celan mit seinem Gedicht «Keine Sandkunst mehr» und seinem Gedichtband «Der Sand aus den Urnen» oder an Nelly Sachs mit ihren «Zeichen im Sand». Sand steht auch für die Feilarbeit an Wort und Gedanken, wie beispielsweise bei Jorge Luis Borges und seiner Novellensammlung «El libro de arena» (Das Sandbuch) oder bei Italo Calvino und seinem Essayband «Collezione di sabbia».

Gemäss dem Nachwort von Clà Riatsch kündet schon der Titel mit dem Verweis auf das alltägliche und bescheidene Material die typisch moderne Verweigerung strenger Formen und hehrer poetischer Motive an, welche die Dichter der Moderne als rhetorischen Kitsch empfinden. Diese Gedichte suchen nicht grosse Worte, sondern nehmen scheinbare Banalitäten und Kleinigkeiten, alltägliche Beobachtungen und Aussagen zum Anlass, einen Reflexions- und Interpretationsraum zu schaffen, welcher auf existentielle Fragen des menschlichen Daseins verweist. Der Sand und das Meer sind dabei Chiffren, die sich wie ein roter Faden durch die Gedichte ziehen: Meer als Kristallisationspunkt von Exotik, Heimweh, Sehnsucht, Abenteuerlust, Freiheitsgefühlen, Sand als Sinnbild für Vergänglichkeit (Celan: die rieselnden Stunden), wandelbare Traumlandschaften und Gefühlswüsten, aber auch für die Leichtigkeit des Schmetterlingsflugs, den nur der feine Sand auf den Flügeln möglich macht.

teis nom

teis nom

da sablun

a la riva dal mar

set leuas

lichan

il sal

da mia said

dein Name

dein Name

aus Sand

am Meeresstrand

sieben Zungen

lecken

das Salz

meines Durstes

Dieses Gedicht – wobei die Übersetzung Behelfstext bleibt – zeigt wie der Sand und die damit verbundenen Elemente (Strand, Meer, Salz) für die knappe Beschreibung eines Erlebnisses, einer Erfahrung dienen. Der Name des «du» ist aus Sand und darum vergänglich, die salzigen Meereswellen haben ihn weggeschwemmt. Das «ich» bleibt allein zurück mit dem salzigen Beigeschmack, hat sein Salz, sein Kleinod verloren. Der Wortklang unterstreicht im ersten Teil mit den vielen «a»s («da sablun / a la riva dal mar») die harmonische Stimmung, die Wiederholung der «i»s im zweiten Teil verweist auf die emotionalen Hiebe und Stiche, die Vokallaute «ia» und «ai» erinnern an ein Wehklagen («lichan il sal / da mia said»). Und wenn man im rätoromanischen Original gut hinhört oder hinschaut, entdeckt man in den genau sieben «l»s des Gedichts sogar die sieben Zungen.

Es ist keineswegs so, dass sich alle Gedichte dieses Bands auf das Thema Sand reduzieren liessen. Aber sie kreisen stetig neu um die angesprochenen existentiellen Fragen, schaffen ausgehend von der Begriffswelt um Sand, Meer, Strand, Schiff, Hafen, Matrose, Wüste, Wasser mannigfaltige Bilder und Assoziationen und manifestieren die Handschrift eines sprachaffinen, einfallsreichen, tiefsinnigen und unermüdlich Worte feilenden Autors. Mögen seine Gedichte von der Vergänglichkeit des Sandes verschont zu bleiben.

cuorsa

mias s-charpas

pella cuorsa

tras il god

han curajas

be nufs

e sgurdibels e

soulas da plom

mia brama

quella va

scuzza

Rennen

meine Schuhe

für das Rennen

durch den Wald

haben Bändel

voller Knoten

und Knäuel und

stählerne Sohlen

meine Sehnsucht

geht

barfuss

Dumenic Andry: sablun. 112 Seiten. Chur: Chasa Editura Rumantscha 2017. 30.- CHF.

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