KW28

Lyrikbad in Leukerbad

Lukas Bärfuss

Gregor Szyndler, Redaktor «Literarischer Monat», über einige bemerkenswerte Lyrik-Lesungen am 22. Internationalen Literaturfestival Leukerbad.

Von Gregor Szyndler
10. Juli 2017

«KEHREN DIE STIMMEN ZURÜCK ZU IHREM TRÄUMER/KOMMEN HEIM» – wie liessen sich die Wunder, Wunden, Verwunderungen, die der Lyrik eignen, knapper als in den Versen der Leipziger Dichterin Anja Kampmann beschreiben? Ihr Lyrik-Band «Proben von Stein und Licht» «erinnert [an] lieder die man kurz/ nach den milchzähnen lernte/ zu den unmöglichsten gelegenheiten». Beim Lesen versinkt sie in ihren Worten: «weit entfernt brennt ein feuer im all./ wir halten abstand./ graumorgen, ackerland.» Und immer wieder kommen Stimmen retour, Bilder, Gedanken, nie bisher gedachte, Reiseimpressionen zwischen Ostsee, Minsk, Leukerbad. Während Kampmanns Auftritte von Verknappung leben, mag ihr Band ein wenig zu umfangreich sein. Indes: Das ist Mosern auf hohem Niveau.

Ungehörte Worte, vertraute Gefühle

Die Lyrik von Nikola Madzirov führt an Nichtorte, die im Augenblick des Vortrags erst Ort werden. Er liest aus seinem Band «Versetzter Stein». Seine Sprache ist die Mazedonische, und obschon da kein einziger verständlicher Ton ist, wird noch vor Rafael Urweiders erster Übersetzung klar: Das ist eine dieser viel zu seltenen Gegenwarten voller Musik und Leben und Weite, in der verwandelt wird, was unabänderlich schien. Doch was ist dieses gewisse Etwas der Lyrik Madzirovs? «Es existiert keine Stille in der Welt.» Was heisst einen da in dieser nie zuvor gehörten Sprache willkommen? «Ich fürchte keine Entfernungen, ihre Nähe macht mir Angst.» Was changiert denn da bei jedem Gedanken daran? «Vergessen sind alle Formen/ des Abschieds ohne Berührung.» Man weiss es nicht. Weiss nicht, was es ist; fühlt sich «wie Schnee, der nicht weiss, ob er zur/ Erde oder zur Luft gehört.» Nie zuvor gehörte Worte finden mit nur allzu vertrauten Gefühlen; Gedanken, Ängsten zusammen. Auch Madzirov führt Stimmen zu ihren Träumern.

Rasend vor Hilflosigkeit

Wie anders erscheint im Vergleich dazu die Wut und Wucht von Serhij Zhadan. Der aus der Ostukraine stammende Dichter hat die kriegerische Welt, über die er schreibt, am eigenen Leib erlitten. Halb tot geprügelt wurde er mit Baseballschlägern, in Charkiw oder Luhansk, seiner zwischen Ost und West zerrissenen Heimat. Nüchtern konstatiert er: «Schlimm ist es zu sehen, wie Geschichte entsteht.» – Noch Minuten vor seiner eigenen Lesung sieht man Zhadan in den Zuhörerreihen sitzen, am geöffneten Notebook schreibend. Einer immer unter Strom. Zhadans Lyrik rast mit gnadenlosem Metrum, messerscharf und maschinengewehrschnell. Und doch, bei aller Rasanz: Da ist einer verletzt und empört über die Brutalität des Bürgerkriegs. Auch das kann Lyrik: Risse zeigen. Rasend sein vor Hilflosigkeit. An die Toten an Strassensperren erinnern, deren Habseligkeiten und Stimmen nach Hause finden, während ihre Gebeine irgendwo verscharrt werden.

Lyrischer Hochgenuss macht grüblerisch

Ein Erlebnis der besonderen Art war die Lesung von Nora Gomringer im Hotel Le Bristol. Sie las aus ihren Sammlungen «Moden», «Morbus» und «Monster». Schon bei der Ankündigung durch Etrit Hasler wird klar: Da kommt was auf uns zu. Ein lyrischer Hochgenuss. Diese grüblerisch machende, lustvolle, innige Nähe von heiterem Ernst und ernsthafter Heiterkeit: «Darf keiner wachsen, und wenn, dann nur in Massen, die vorrätig im Lager sind.» – Bei Gomringer wirbeln Tiefenschärfe, Spielfreude und launige Moderationen durcheinander. Ohne die Magie des Augenblicks zu vernachlässigen, wird hier parliert, gesungen, in Erinnerung gerufen, gefrotzelt und lebenslanger Lyrikleidenschaft gehuldigt. Brillante Lyrik, brillante Lesung; zugleich lässt sie keinen Zweifel, dass Brillanz bloss ein Oberflächenpoliturverfahren ist, während der Zauber ihrer eigenen Zeilen viel tiefer wurzelt.

Vorm Haifischbecken

Und dann war da ja auch noch der lyrische Teil des «Literarischen Abends» in der Walliser Alpentherme. In den leeren Schwimmbecken sass das Publikum. Auf einer schmalen Bühne, eingerahmt von Wasserspeiern, einem Vorhang und Scheinwerfern, fand das Beste an Lyrik, was einem heuer hier über den Weg lief, noch einmal zusammen. Die Sprüche der Lesenden lassen nicht lang auf sich warten. «Wenn das mal nicht das Haifischbecken des Literaturbetriebs ist!» – «Sie ahnen ja nicht, wie schnell sich dieses Becken bei Rohrleitungsbruch mit Wasser füllt!» Keinerlei Sottisen braucht hingegen Michael Fehr, um das Publikum für sich zu gewinnen.

Genau genommen braucht Fehr dazu gar nichts. Er muss bloss ganz vorn am Rand der Bühne stehen. Schweigen. Sich sammeln. Dann loslegen. Fehr, ganz  Brechts Wolke, ist einfach nur ungeheuer da. In seiner Sprache. Seinen Pausen. Seinen Gesten. Schritt für Schritt geht er zu seiner Erzählung «Welch Einfall» die Bühne auf und ab, hin und her: «Eines Nachts aber dann geht im Traum der Tochter/ die Mutter um» – Fehr füllt den Raum mit Worten und Schritten, «rauscht weiter hinaus/ bis an den toten Punkt/ an dem das Licht der Sonne endet». Dann fällt er auf die Erde zurück, um ganz am Ende seiner Lesung einen gut geölten, manchmal etwas gar forcierten Blues zu röhren: Auch hier die Heimkehr der Stimmen. Man muss es gehört haben. Gesehen. Gelesen.

Spontane Einlage

Baff von dieser Gesangseinlage war der nächste Leser, der französische Schriftsteller, Soziologe, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Azouz Begag. Ihn hält es nicht bei seinem Buch, aus dem zu lesen er im Sinn hatte. Er beginnt, offenbar noch ganz unter dem Eindruck von Fehrs Mondfahrt, seine Lesung mit einem Chanson. Immer wieder blättert er beim Singen in seinem Buch, als suche er eine Landestelle, um seine «eigentliche» Lesung zu beginnen. Doch daraus wird nichts. So findet man sich bald in einer Würdigung seines analphabetischen Vaters wieder, der nie ein Buch las und doch das Wesen der Bücher durchschaute. Als Begag sein Buch aufklappt und es, «I am flying» singend, durch die Luft schweben lässt, findet das lyrische Bad von Leukerbad seinen Höhepunkt. Darin, wie einige schwere Zungen es hinterher monierten, nichts als Pathos zu orten, wird der Sache nicht gerecht. Als spontanes Gegenstück zu Michael Fehrs durchkomponierter Mondfahrt macht uns Begags Darbietung zu Zeugen des innersten Kerns der Lyrik, der Poesie. Werden! Nicht Gemachtsein! Das ist es, was zählt in ihr. Nicht die Bücher, die einer gelesen. Nicht die Bücher, die einer geschrieben. Nur die Bücher, die einer zum Fliegen gebracht hat, zählen.

Literaturhinweise:  Azouz Begag: Le gone du Chaâba. Editions du Seuil 2005. Michael Fehr: Glanz und Schatten. Erzählungen. Der gesunde Menschenversand 2017. Nora Gomringer: Moden. Buch mit Audio-CD. Mit Illustrationen von Reimar Limmer. Voland & Quist 2017. Anja Kampmann: Proben von Stein und Licht. Gedichte. Hanser Verlag 2016. Nikola Madzirov: Versetzter Stein. Gedichte. Aus dem Mazedonischen von Alexander Sitzmann. Hanser Verlag 2011. Serhij Zhadan: Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Suhrkamp 2016.