KW08

Im Zwischenreich

Romana Ganzoni Gianna Conrad

Polyamorie hat gute Chancen, als Modethema der Zehnerjahre in die Geschichtsbücher einzugehen. Beziehungen zu zwei oder mehr Partnerinnen und Partnern galten plötzlich als chic, Ratgeber, Erlebnisberichte und eben auch Romane nahmen sich des Themas an. Um Liebe sollte es gehen, nicht bloss um Sex, um soziale Strukturen, Netzwerke, Verbünde, nicht bloss um den Reiz des Neuen. Dass Freunde die neue Familie sind, predigt die Soziologie schon lange. Aber taugen sie auch als Partner? Zeitgleich zu Ronja von Rönnes vielbeachtetem Polyamorieroman Wir kommen stellte sich im vergangenen Frühjahr auch das Debüt der Berner Autorin Sabine Hunziker dieser Frage.

Von Barbara Brawand
21. Februar 2017

Polyamorie hat gute Chancen, als Modethema der Zehnerjahre in die Geschichtsbücher einzugehen. Beziehungen zu zwei oder mehr Partnerinnen und Partnern galten plötzlich als chic, Ratgeber, Erlebnisberichte und eben auch Romane nahmen sich des Themas an. Um Liebe sollte es gehen, nicht bloss um Sex, um soziale Strukturen, Netzwerke, Verbünde, nicht bloss um den Reiz des Neuen. Dass Freunde die neue Familie sind, predigt die Soziologie schon lange. Aber taugen sie auch als Partner? Zeitgleich zu Ronja von Rönnes vielbeachtetem Polyamorieroman Wir kommen stellte sich im vergangenen Frühjahr auch das Debüt der Berner Autorin Sabine Hunziker dieser Frage.

Hinter dem erratischen Titel Flieger stören Langschläfer verbirgt sich die Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen drei jungen Menschen. Alle Beteiligten wissen umeinander, suchen Halt und das Glück beieinander und können es trotzdem nicht so richtig finden. Erzählt wird dabei zunächst von Judith. Von ihrer stockenden Arbeit an der Dissertation und von Abel, ihrem langjährigen Freund, der sich ihr einst vertrauensvoll hingab, sein Glück aber seit einiger Zeit im Fremdgehen sucht. Um Abel das Lügen zu ersparen, bietet ihm Judith eine offene Beziehung an. Und ist es schliesslich selbst, die die schizophrene Agnes in die Beziehung mitbringt. Judith und Abel sind die Langschläfer, Agnes der störende, aber auch anregende Flieger. Die Szene zu dieser ménage à trois liefert Judiths spartanisch eingerichtete Wohnung, die sich in einem von der Gentrifizierung bedrohten Berner Abbruchhaus befindet. Das Haus knarrt und die Wände bröckeln; es gibt weder Heizung noch ein eigenes Bad. Ein Zwischenreich also, aus dem Judith schon bald vertrieben sein wird, sich aber noch ganz zu Hause fühlt.

So wird der Leser eingeladen, sich auf Judiths Gedankenwelt einzulassen und lernt die drei Protagonisten kennen: Die von aussen als teilnahmslos bezeichnete, sich selber aber als unnahbar beschreibende Judith, die stets ein bisschen verliebt und vor allem fasziniert von Agnes berichtet. Agnes, die wegen ihrer Schizophrenie immer wieder eingewiesen wird und in den Zwischenzeiten ein Leben am Limit lebt. Und da ist Abel, der sich durch Rückschläge im Studium immer weiter von sich selbst entfernt und davon sarkastisch wird, manchmal aber auch weint. Doch Judith fragt ihn nie nach dem Grund. Überhaupt kreisen ihre Gedanken eher um Agnes als um Abel. Manchmal scheint es, als hätte sich Judith von Abel schon lange verabschiedet, doch träumt sie immer noch von der vollkommenen Zweisamkeit, die einst zwischen ihnen herrschte. Bisweilen spannen wiederum Abel und Agnes zusammen; um in «Rededuellen» und «Kampfgelabern» Partei gegen Judith zu ergreifen oder auch einfach nur heimlich in der Küche zu tuscheln. Die Situation spitzt sich zu, doch eine Eskalation scheint aufgrund Judiths fast endloser Geduld und Lethargie nicht möglich. Doch ewig lässt auch bei ihr unvermeidliche Ausbruch der Eifersucht nicht auf sich warten.

Stimmig wechselt die Erzählung an dieser Stelle die Perspektive. Ein Erzähler tritt hinzu und beschreibt die Rollenaufteilung zwischen den dreien völlig anders als Judith: Abel und Agnes erscheinen als erbitterte Rivalen, die ansonsten so stille und zurückhaltende Judith teilt lautstark aus und beleidigt die beiden bis unter die Gürtellinie. Dass die Leserinnen und Leser nicht nur Judiths Perspektive auf die beteiligten Figuren, sondern auch ihre Partei in der Dreiecksgeschichte eingenommen haben, wird auf diese Weise literarisch überzeugend vor Augen geführt. Denn dass alles eine Frage der Perspektive ist, mag zwar theoretisch ein alter Hut sein, zeichnet in der Lebenspraxis aber noch immer für die Mehrzahl aller Missverständnisse verantwortlich.

Wenn Judith erzählt und sich dabei in ihren Gedanken verliert, passiert das oft in bedeutsamen und originellen Gleichnissen. Auch kommt die Erzählerin immer wieder auf die gleichen Paradigmen zurück, sodass unweigerlich eine tiefere Bedeutung dieser Themenkreise wie natürlich die Liebe, aber auch Tod, Schatten und ganz viel Musik, im Raum steht. Und dies wiederum lädt ein zum Rätseln, Kombinieren und Nachdenken. Überzeugend ist auch die stilistisch abwechslungsreiche Entfaltung von Judiths Gedanken: In einem Moment lässt sich Judith noch in äusserst derben Ausdrücken über die Pornoindustrie aus, um im nächsten in ein verletzliches, wehmütiges Register zu wechseln.

Damit zeichnet Hunziker eine schwer greifbare und teilweise schwer erträgliche Protagonistin, die man im einen Moment für ihre Verletzlichkeit in den Arm und im nächsten für ihre Trägheit schütteln will. Gerade Judiths Lethargie und Unentschlossenheit gehen zunehmend auf die Nerven, sodass man von Judith am Ende des Buches gerne Abschied nimmt. In dieser aber offenbar gewollten Geduldsprobe liegt jedoch auch die einzige Schwäche des Romans, denn Flieger stören Langschläfer überzeugt durch Tiefgründigkeit und ist so vielschichtig, dass weit mehr als die Frage nach der Gültigkeit einer monogamen Beziehung in einer modernen Gesellschaft gestellt wird. Stilistisch bewegt sich Hunzikers Roman in der Nähe der jüngeren Postpopliteratur, an deren Spitze nicht länger depressive Dandys, sondern mit Autorinnen wie Ronja von Rönne, Antonia Baum oder Rebecca Martin dezidiert weibliche Stimmen stehen. Sabine Hunziker und ihr überzeugend komponiertes Debüt brauchen sich in dieser Reihe nicht zu verstecken.

Sabine Hunziker: Flieger stören Langschläfer. 168 Seiten. Wien: Septime 2016, ca. 30 Franken.