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Eine neue literarische Stimme aus dem Tessin: S. C. De Stefanis Debütroman «L’ultima innocente»

M2.2

In unserem ersten Beitrag zur italienischsprachigen Literatur der Schweiz widmet sich Gianna Conrad dem wohl aufregendsten Debüt des vergangenen Tessiner Bücherherbstes. Ein Roman über die schwarzen Tunnel der Adoleszenz, literarische Zeitbomben, den Wahnsinn vor aller Augen – und über die Unschuld, die vom Himmel fiel.

Von Gianna Conrad
16. Januar 2017

S. C. De Stefanis Erstling L’ultima innocente («Die letzte Unschuldige», Salvioni 2016) konfrontiert die Leser mit einer Form von Schrecken und Horror, die im ersten Augenblick sämtliche moralischen und ästhetischen Grenzen der Literatur zu überschreiten scheint. Für die schwierige Übergangsphase zwischen Kind-Sein und Erwachsen-Sein findet die 29-jährige Autorin das Bild «des schwarzen Tunnels», in welchem Kinder die reale Welt entdecken, weit entfernt von der idealisierten Vorstellung aus ihrer Kindheit. Und dabei in den Abgrund einer höllischen Spirale schauen, die alle und alles in die Tiefe reisst. Hölle, Blut, Gewalt, Missbrauch, Finsternis, zerstörte Familienbeziehungen, getötete Mütter und Kinder, zornige und handgreifliche Vaterfiguren, schuldige Erwachsene, kämpferische Jugendliche, eine glückliche Vergangenheit und eine schwierige Gegenwart: Es ist ein Roman ­– und mit 300 Seiten nicht gerade ein kurzer –, der aufwühlt, eine Geschichte, die entlang präzis gewählter Dialoge und vermittels einer bildreichen Sprache sowohl die Leser als auch die literarischen Figuren durch den Alltag und ihr Leben quält. De Stefani erzählt von Freundschaften und Einzelschicksalen, von Jung und Alt, Mann und Frau. Geglückt ist ihr fulminantes Romandebüt, weil es sich sträubt, ein klassischer Generationen- oder Familienroman zu sein. Fernab von Klischees und inhaltlichen Erwartungen beschreibt sie in ihrem Roman die Schattenseiten des Erwachsenwerdens ihrer Altersgenossen und konfrontiert uns mit Tabuthemen wie häuslicher Gewalt an Kindern, Drogenexzessen, Kriminalität und Problemen mit der Sexualität. Für die junge Autorin haben diese Erfahrungen einen direkten Bezug zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Umfeld. Für sie sind es nämlich «Ereignisse, die sich direkt vor unserer Nase abspielen, sie sind ein Teil des täglichen Lebens der heutigen Familien und Jugend, unserer Nachbarn und vielleicht sogar unserer Freunde».

Zur Autorin

C. De Stefani wurde 1987 in Lugano geboren. Nach ihrem Literaturstudium an der Universität Genf, das sie 2011 mit dem Master abschloss, promovierte sie 2016 an der Universität Zürich in italienischer Literaturwissenschaft. Sie lebt gegenwärtig in Zürich. Der Roman «L’ultima innocente» (Salvioni, 2016) ist ihr literarisches Debüt.

Entstanden ist L’ultima innocente als eine Erzählung, deren Anfang und Ende von vornherein fixiert waren. Wie De Stefani ausführt, begann alles mit der Idee, unterschiedliche Protagonisten, vier an der Zahl, und deren Lebensgeschichten miteinander zu verbinden, ihre Einzelschicksale aufeinandertreffen zu lassen, damit der dunkle Abschnitt, «das schwarze Loch», aus dem Leben der Protagonisten ans Licht käme. Geschrieben wurde das literarische Werk hauptsächlich in der Nacht, an einem kleinen Küchentisch in ihrer damaligen Einzimmerwohnung in Zürich. Eine nächtliche Dunkelheit und Schwere haftet an jeder Seite des Buches, das von der apokalyptischen Adoleszenz sowie von der Angst und Schuld der Eltern, welche auf das Leben ihrer Kinder einwirken, erzählt. Und die vier Protagonisten ziehen sie wortwörtlich hinter sich her, diese Mütter und Väter, und jede/r von ihnen versucht in irgendeiner Weise die Abwesenheit der Eltern oder eines Elternteils durch etwas oder jemanden zu ersetzen: Sarah nimmt den Platz ihrer verstorbenen Mutter ein; Angela versteckt das, was sie im Buch «ihr schmutziges Geheimnis» nennt, und versucht ihre Eltern davor zu schützen; Luca neigt dazu die Personen, welche er liebt, vor Leid und Schmerz zu bewahren; Samuel hingegen fühlt sich schuldig und lebt im Schatten seines querschnittgelähmten Bruders. Vier Lebensgeschichten als Einzeldrama, die allesamt darin resultieren, dass diese vier Jugendlichen viel schneller erwachsen werden, als sie eigentlich sollten.

Obwohl De Stefani anfangs nicht mit der Idee spielte, einen Roman ohne Mutterfiguren zu schreiben, ist er das in der Tat geworden. Im Zentrum der erzählerischen Handlung steht das Verhältnis zwischen der weiblichen Protagonistin Sarah und ihrem Vater Massimo Santi – eine Beziehung die weitgehend auf Abwesenheit beruht – und eine Familie, die sich nur zwischen den Zeilen versteht. Mit anderen Worten, die familiäre Bindung funktioniert nicht: «Es handelt sich um eine Störung, deren Kristallisationspunkt das Nichtvorhandenseins der Mutter bildet», so De Stefani. Die Absenz der Mutter bleibt nicht im Verborgenen, im Gegenteil: Sie fällt stärker ins Gewicht als das Jüngste Gericht, da dieser Bruch es für Sarahs Vater Massimo geradezu unmöglich macht, sich in seinem Leben zurechtzufinden. Ohne Lucia, die durch extreme Stilisierung madonnenhafte Züge annimmt, ist er nicht in der Lage zu überleben. Zugleich ist der Vater die wohl umstrittenste und gleichzeitig interessanteste Figur des ganzen Romans, entzieht er sich doch einer klaren Charakterisierung. Verzweifelt versucht Massimo dem traditionellen Vatermodell zu entsprechen, das aus ihm einen starken, fürsorglichen Vater machen würde, der mittels einer sehr traditionsbewussten Moral seine Kinder in eine positive Zukunft lenken möchte. Das Projekt misslingt: Getrieben vom Alkoholismus verliert er regelmässig die Kontrolle über sich und seine Situation – und misshandelt seine Kinder. Er ist jedoch nicht der klassische Bösewicht, sondern eher eine tragische Figur, die Mitleid – im etymologischen Sinne des Wortes – hervorruft.

Das Themenfeld prekärer Familienkonstellationen und innerfamiliärer Gewalt reflektiert De Stefanis Roman auf eine sehr eigene Weise. Mündet die mediale Auseinandersetzung mit diesem Komplex immer in die Form eines politischen Ausdrucks, in das Szenario eines Kriegs zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht, der «nur bei einem Todesfall grosse Schlagzeilen macht», so geht es L’ultima innocente nicht ausschliesslich um die Frage nach der Täterschaft im soziopolitischen Kontext, sondern vielmehr um den psychologischen Hintergrund der gewalttätigen Individuen. Der Text beschreibt die Leiden der Kinder und Jugendlichen, jedoch nicht nur aus dem Blickwinkel der Opfer, sondern auch aus dem der Täter – was folglich die Frage nach der Schuld bzw. Unschuld aufwirft.

Auch wenn L’ultima innocente suggeriert, dass nur eine Person frei von jeglicher Schuld sein kann, wird dennoch spätestens am Ende der Geschichte klar, dass alle Charaktere einen gewissen Grad der Unschuld in sich tragen. Demgegenüber entspringt die Schuld, oder eben das Böse, aus verschiedenen Formen persönlicher Schwäche und bleibt an Erlebnisse der Protagonisten gekettet. Die kantische Idee des radikal Bösen, die keinen Zweifel aufkommen lässt, auf wessen Seite man sich zu stellen hat, ist hier weit weg. An ihre Stelle tritt in diesem Buch etwas anderes, eine – wie De Stefani es formuliert – «auf die Erde katapultierte Form der Unschuld, die in vielerlei Hinsicht durch das irdische Leben geprägt wurde.»

S.C. De Stefani: L’ultima innocente. 320 S. Bellinzona: Salvioni 2016.