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Kein Held im eigenen Land?

Nora Zukker gibt Christian Kracht eine zweite zweite Chance bei seinem Soloauftritt im Zürcher Landesmuseum. Das Tempo-Rätsel vom Vortag im Literaturhaus wird nicht gelöst. Und ein Granny Smith macht die Sache nicht einfacher.
In Frankfurt strömten vor wenigen Tagen 700 Menschen zur Lesung von Christian Kracht. In Zürich bin ich eine der ersten, die 15 Minuten früher da ist. Auf dem Platz vor dem Landesmuseum sind die Jugendlichen schon betrunken, stimmen sich ein auf den nächsten unvergesslichen Samstagabend. Ich war nicht viel älter war als sie, als ich Christian Kracht zum ersten und bislang einzigen Mal gesehen habe. Er las damals im Cabaret Voltaire in Zürich aus Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, trug einen beigen Trenchcoat und blickte während der ganzen Lesung nicht einmal ins Publikum . Ich war damals ein grosser Fan von Faserland. Und es war meine erste Lesung überhaupt. Heute denke ich, dass es der beste Einstieg war, eine richtige Wasserglaslesung eben. Dass muss etwa vor acht Jahren gewesen sein. Damals bin ich auch das erste und letzte Mal in der Schlange gestanden, um mir ein Buch signieren zu lassen. Als ich endlich am Tisch angekommen war, hielt ich ihm das neue hin und Faserland, das ich extra eingepackt hatte. Kracht nahm sein Debüt in die Hand, drehte es um, als würde er den Klappentext seines eigenen Buches lesen, verzog keine Miene, legte es zur Seite und signierte mir sein neues Buch. Dann hielt er mir die zwei Bücher wieder hin. Sein Blick blieb erst im Buch, dann fiel er wieder auf den Tisch. Erst dachte ich, vielleicht gibt es da Verträge, dass der Verlag dem Schriftsteller vorgibt, welche Bücher er signieren darf und welche nicht. Ich war 22 und sehr geknickt. Bis heute hat es mich nicht losgelassen, wie unbeholfen dieser Mann an seinem Tisch sass und jede natürliche Regung unterdrückte. Er tat mir leid. Dass Kulturveranstaltungen immer wieder etwas Zirkusartiges haben, ahnte ich sehr wohl, aber das hier war dann eher nicht mehr gesund.
Beim Eingang des Landesmuseum steht«Fotografieren verboten». Es haben sich auch wirklich alle daran gehalten. Dass sich Christian Kracht nicht gerne fotografieren lässt, war mir bekannt, auch dass im Rahmen seiner Lesung hier in Zürich für die Fotografen galt: 30 Minuten vor Lesungsbeginn darf man den Schriftsteller für genau fünf Minuten ablichten. Wenn dabei ein vernünftiges Bild entsteht, würde mich sehr überraschen. Im Auditorium des Landesmuseums, dem perfekten Raum für eine Wasserglaslesung, läuft Musik. Eine Band aus den 30ern, der Verlag hat die Wunschmusik im Vorfeld zugeschickt. Der Tisch musste auf Wunsch des Schriftstellers mit zwei bodenlangen schwarzen Tüchern abgedeckt werden. Neben dem Tisch steht ein farbiger, sehr stilvoller Blumenstrauss, nein, eher farbige Äste. Die Reihen füllen sich, vielleicht war es am Ende ein Drittel des Frankfurter Publikums. Woran das liegt, dass die Menschen hier nicht Schlange stehen und auf Facebook vorab um Karten feilschen, weiss ich nicht. Kein Held im eigenen Land sei er, hörte ich nach der Lesung draussen beim Aschenbecher einen Mann in sein Handy sagen.
Ich sitze in der ersten Reihe. Rechts von mir ein Mann, der noch einmal die angestrichenen Textstellen in Die Toten durchgeht. Ein Hardcore-Kracht-Verehrer, der gleich alles leise mitlesen wird? Zwei Plätze neben mir sitzt Christian Kracht, erstaunlich entspannt beisst er in einen Granny Smith-Apfel und merkt schon beim zweiten Bissen, dass es bereits nach 20 Uhr ist und der Apfel zu gross, um ihn noch fertig zu essen. Im Nachhinein hätte es für zwei Granny Smith gereicht, so langfädig war die Einführung. Wieder rührt mich seine Unbeholfenheit, aber die Arroganz von vor acht Jahren scheint von ihm abgefallen, was mich freut. Älter vielleicht, entspannter auf jeden Fall. Dann steht der Mann rechts von mir auf und geht nach vorne. Thomas Haemmerli darf Christian Kracht ankündigen. Herr Haemmerli, den ich zu Hause gegoogelt habe, ist Kolumnist und Regisseur. Sieben Mulden und eine Leiche war sein bekanntester Dokfilm, über die zugemüllte Wohnung seiner Mutter, die er nach deren Tod räumen muss und gleich einen Film daraus machte. Thomas Haemmerli hat sich vorbereitet, daraus macht er keinen Hehl, aber leider fehlt es ihm an Soul und Ausstrahlung. Er fasst also etwas ungelenk in fünf Punkten zusammen, warum Christian Kracht die Kritiker derart irritiert, und er tut das ganz vorbildlich, indem er uns auch gleich passende Textstellen liefert. Wären da nur nicht die ständigen Versprecher… Ich schaue zu Christian Kracht rüber, der gerne in den Apfel beissen will, es dann doch nicht tut, es wäre zu laut und Herr Haemmerli würde vollends aus dem Konzept kommen. Er schmunzelt zwar, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich das so gewünscht hat. Herr Haemmerli hat dann ein Ende mit Punkt fünf gefunden, ich atme auf, Christian Kracht kommt auf die Bühne. Er grüsst ganz kurz auf Schweizerdeutsch. Dann nimmt er das Buch und kündigt an, er werde aus seinem neuen Roman vorlesen. Das wird der letzte improvisierte Satz des Abends gewesen sein. Und dann liest er. Und wie er lesen kann. Siebzig Minuten ohne Unterbruch. Frontallesung. Zwischendurch ein Schluck aus dem Wasserglas. Er liest, bis er am Ende kaum mehr Luft bekommt, er scheint wie schon am Vortag sehr erkältet zu sein, aber er liest auf eine Weise, bei der ich mich nicht erinnern kann, wann mir jemand zuletzt so schön vorgelesen hat. Ganz abgesehen, dass seine Sätze für meine Ohren perfekt komponiert sind, kann er sie eben auch lesen. Und das ist ja leider nicht der Normalfall, dass Schriftsteller ihre guten Sätze auch gut lesen können. Die reduzierte Mimik Krachts passt perfekt, der subtile Humor verlangt nicht danach. Grosse Unterhaltung. In der rechten Hand hält er den ganzen Abend sein Buch, mit der linken Hand hält er immer wieder den angegessenen Apfel fest oder er dreht zur Abwechslung den weissen Plastikverschluss der San Pellegrino-Flasche zwischen den Fingern. Und dazwischen immer wieder das schon am Vortag so auffällige Tempo-Taschentuch, mit dem er sich Stirn und Nase abtupft. Ich schliesse irgendwann die Augen, und als ich gerade ewig zuhören könnte, ist die Lesung zu Ende. Christian Kracht steht auf, verneigt sich kurz und geht dann zum Ausgang des Auditoriums, bleibt kurz stehen, dreht sich um, als würde er auf einen Zeichen von jemandem warten, der ihm sagt: «Ja, alles gut, lieber Christian, draussen ist der Büchertisch, da setzt Du Dich hin, wie wir das vorher besprochen haben.» Und so geht er, setzt sich hin und signiert. Er schaut die Menschen an und fragt nach den Namen und ich traue meinen Augen nicht, stelle mich aber auch heute nicht in die Schlange.
Auf dem Platz vor dem Landesmuseum sind die Jugendlichen von vorhin inzwischen völlig betrunken. Ob das noch für den unvergesslichen Abend reicht? Ich entscheide mich gegen die Tram, um allein durch die Nacht zu laufen und die Lesung nachwirken zu lassen. Fast geschafft, denke ich, als mir an der Ampel vor meiner Wohnung eine Gruppe Frauen entgegen kommt, die etwas frühzeitig für Halloween verkleidet sind und Kleinen Feigling trinken. Etwas überfordert bleibe ich stehen, bis die Ampel wieder rot ist. Ich muss lachen, weil ich mir vorstelle, wie Christian Kracht vielleicht gar nicht mehr über die Strasse gekommen wäre, so sehr scheint ihn alles im Aussen zu irritieren, zu fordern und vielleicht auch zu stören. Aber vorlesen kann er. Als ich bei der nächsten Grünphase über die Strasse gehe, muss ich an Benjamin von Stuckrad-Barre denken, der sagte: «Popliterat klingt natürlich immer ein wenig nach Behindertenparkplatz.» So wird es wohl bleiben. Dass man sich fragt, ob der weit gereiste Kosmopolit Kracht es um die nächste Ecke schafft, ob er jemals einen Apfel selbst gekauft hat – und warum man dennoch schon beim einfachen Anblick eines Granny Smith das Gefühl nicht loswird, gerade der nächsten Inszenierung aufgesessen zu sein.