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«Follow the white rabbit.» Anmerkungen zu Sebastian, Christian Krachts kleinstem «Toten»

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Bei Vollmond erblicken viele Japaner einen Hasen bei der Arbeit und hören eine alte, seit Kindertagen vertraute Legende. Diese führt in einen dunklen Wald, wo sich Fuchs und Hase nicht gute Nacht sagen können, weil auch der Affe mit am Lagerfeuer sitzt. Das wiederum reizt den Herrn des Himmels, Taishakuten, auf Erden nach dem Rechten zu sehen. Verkleidet als namenloser Wanderer, bittet er die drei Tiere um etwas zu essen. Fuchs und Affe sind darum nicht verlegen, nur der Hase findet nichts und legt sich selbst auf den Grill. Von diesem Opfer gerührt, verleiht Taishakuten dem Nager seine alte Gestalt und begräbt ihn in seinem himmlischen Schloss. Der Opferrauch des Hasen, so die Legende, ist seitdem als jener Mondschatten zu sehen, der auf den schönen Namen Tsuki no Usagi hört und noch heute, meist dargestellt bei der Arbeit mit Mörser und Stampfbottich, zum asiatischen Ikonenbestand gehört.

Von Christoph Steier
27. Oktober 2016

Von solcher Selbstlosigkeit ist der Hase Sebastian, von dem Christian Kracht im zwölften Kapitel seiner Toten in Form einer Kindheitserinnerung des Protagonisten erzählt, weit entfernt. Schon das Äussere des «renitenten Albinotiers mit roten Augen» lässt Äusserstes vermuten, und so erfährt der kleine Emil Nägeli schon bei der ersten, «Rüebli»-bewehrten Annäherung nichts weniger als «die unanständige, unterschiedslose Grausamkeit der Natur». Prosaischer: Seine Gabe wird verschmäht, Emil «in die Fingerkuppe» gebissen. Die Narbe, daran lässt der im Laufe des Buches noch öfter erwähnte versehrte Fingerabdruck keinen Zweifel, wird bleiben: Schon bei der allerersten Begegnung lernen wir den arrivierten Nägeli kennen als einen, der «saugte und nagte.» Eine Karriere als «Gruselfilm»-Regisseur scheint nach diesem frühkindlichen Trauma unausweichlich. Und selbstredend wird der Hase, bis heute in der asiatischen Populärkultur ebenso schneeweiss dargestellt wie der renitente Albino, Nägeli für sein grösstes Projekt in den 1930er-Jahren nach Japan führen.

«Follow the white rabbit» einmal anders – möchte man meinen, scheinen doch ausnahmsweise einmal nicht Lewis Carolls Alice in Wonderland und dessen berühmter Hase mit der Taschenuhr Pate gestanden zu haben. Was wunderbar zu den Bemühungen von Krachts zweiter Hauptfigur zu passen scheint, widmet sich der mysteriöse Japaner Masahiko Amakasu doch gerade einem «Komplott gegen die internationale Allmacht des Hollywoodfilms.» Tatsächlich ist Carolls 1865 erschienenes britisches Erfolgsbuch allein zwischen 1915 und 1933, im Handlungszeitraum von Krachts Roman also, gleich drei Mal in Hollywood verfilmt worden. Die Ent-Wendung des weissen Hasen von der Hollywoodhegemonie in die ältere asiatische Kultur könnte deshalb geradezu als Emblem der gegenkulturellen Unternehmung Amakasus dienen.

Aber wie im Wunderland ist auch in den Kulturen und damit bei Christian Kracht als einem ihrer spielfreudigsten bricoleurs alles noch einmal ein wenig anders. Denn erstens findet sich, aus Sicht der Nachgeborenen, denen Die Toten aufgegeben sind, unter den bislang 22 Verfilmungen des Alice-Stoffes neben einem Pornomusical, zahllosen Fernseh- und Hollywoodfilmen auch eine japanische Animeserie aus den 1980er-Jahren. Deren eigenwillige Machart zeugt zwar eher von einer kulturellen Anverwandlung als von einem ungebrochenen Siegeszug amerikanischer Kulturindustrie, doch ist es damit zumindest in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um die Unschuld des weissen Mondhasen geschehen. Die Anschlussfähigkeit eines viktorianischen Taschenuhrhasen an asiatische Ikonen verweist jedoch vor allem auf eine tiefere, gemeinsame Wurzel, die jeder Vorstellung kultureller Reinheit, die es entweder zu exportieren oder zu bewahren wäre, den Boden entzieht. So gelten weisse Tiere in praktisch allen Mythologien als ambivalente Träger magischer Kräfte, häufig werden in ihnen erlöste oder büssende Seelen vermutet. Schon eine Gründungslegende Roms wusste von einer weissen Sau und ihren vielen Nachkommen zu berichten, und wenn schon nach Rom viele Wege führen, gilt dies vom grenzenlos anschlussfähigen Weiss wohl erst recht. Bleiben wir also lieber beim Hasen, dessen Schicksalen in der Kunst übrigens ein auch für Schweizerinnen und Schweizer gut erreichbares Museum im württembergischen Eppelheim gewidmet ist.  Mit Krachts Albino Sebastian, wenigstens dem Namen nach auch ein Märtyrer, ist der dortige Bestand um ein hochkomplexes, anspielungsreiches Exemplar reicher. Und auch wenn Sebastian, der das zwölfte Kapitel übrigens nicht überlebt, dort keine Aufnahme finden sollte, wird sein Bild nicht wenigen Kracht-Leserinnen und Lesern beim nächsten Vollmond aufgehen. Mit Mörser und Stampfbottich, Insignien jeder konzentrierten poetischen Verdichtung, die Christian Krachts Schreiben spätestens seit dem Roman 1979 von 2001 auszeichnet. Dessen selbstreflexives Emblem übrigens Joseph Beuys und sein Filz-Faible waren. Was, wie Heinz Drügh zu Recht betont hat, eine ingeniöse Wendung der bekannten Text-Gewebe-Metapher bedeutete, bezeichnet Filz doch gerade kein geordnetes, sondern ein chaotisches, durch Pressen, Eindampfen und Verkeilen gewonnenes Fasergewebe. Das lässt nicht nur den Titel von Krachts Debüt Faserland noch einmal in einem anderen Licht erscheinen, sondern erhellt auch den auf komprimierte Unentwirrbarkeit angelegten Umgang dieses Autors mit jeder Form von kulturellem Material. In Sachen Dichte, Knitterfreiheit und Widerstandsfähigkeit steht Krachts Prosa ihrem – natürlich aus Tierhaaren – gewonnenen Emblem in nichts nach. Und Kracht wäre nicht Kracht, fände sich in seinem Hasen-Filz nicht auch eine geballte Ladung Beuys: Der nämlich hatte im Rückblick auf seine Düsseldorfer Aktion «Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt» von 1965 den Hasen zum praktischen Vollender dessen erklärt, «was der Mensch nur in Gedanken kann. Er gräbt sich ein, er gräbt sich einen Bau. Er inkarniert sich in die Erde, und das allein ist wichtig.» Ist es natürlich nicht, nicht allein, sondern lediglich eine neue Faserspur, die auch beim Mond nicht endet. Mag er also gegen den Igel ständig verlieren, in der Kunst ist der Hase immer schon da.