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«Mein Buch handelt von einem Verbrechen der Phantasie.»

Roman Graf Morris Buchjahr

Anlässlich seiner Lesung im Zürcher Literaturhaus sprach Roman Graf mit dem Buchjahr über seinen jüngsten Roman «Mädchen für Morris».

Von Cédric Weidmann
6. Oktober 2016

Roman Graf, «Mädchen für Morris» handelt vom pensionierten Literaturdozenten Albert Keller, der eine Biografie über den Schriftsteller Jean Mason schreibt. Als er stirbt, verliebt sich Keller in dessen Tochter. Während er sich vorstellt, dass er nur eine Freundin für seinen verstorbenen 14-jährigen Sohn Morris sucht, beginnt er ihm nachzustellen und es zu vergewaltigen. Provozieren Sie gern?

Nein, eigentlich nicht. Und in diesem besonderen Fall wäre mir dies auch zu platt gewesen. Zwei Begriffe halte ich für wichtig: Irritation und Empörung. Die Irritation, die das Buch auslöst, ist dessen moralische Dimension. Wenn man irritiert ist, hält man inne, muss neu denken, da die Denkmuster versagen. Das Buch fordert eine Leserin, die aktiv überlegen muss: Was halte ich davon, mit welcher Figur möchte ich mich solidarisieren?

Solidarisieren ist ein interessanter Punkt. Der Schriftsteller Jean Mason in ihrem Buch erläutert in einem Interview seine Haltung: «Auf die Frage, weshalb viele seiner Protagonisten unsympathisch seien, antwortete Jean, die massenweise um Sympathie buhlenden Romane mit ihren sympathischen Figuren, geschrieben von sympathischen Autoren, langweilten ihn.» Albert Keller ist auch ein unsympathischer Mensch. Darf ich die Frage an Sie weitergeben?

Nicht alles, was der Schriftsteller im Buch sagt, entspricht meiner persönlichen Meinung. Aber ich würde schon sagen, dass an diesem Satz etwas dran ist. Da das Bücherschreiben heute in ein gut ausgebautes System eingebunden ist (Buchhandel, Literaturförderung, Lesungen), spielt die Verwertbarkeit der Literatur eine wichtige Rolle. Man erwartet zwar von ihr, dass sie subversiv sei, gleichzeitig muss sie aber auch innerhalb des Systems bestehen können. Vielleicht gibt es da die Tendenz, dass man nicht anecken möchte. Dieses Buch unterläuft das vielleicht.

Ihr Roman wird verglichen mit Nabokov, Thomas Mann; Lewis Carroll wird zitiert. Im Unterschied zu den pädophilen Charakteren dieser Erzählungen, in denen die Taten plausibilisiert werden, scheint in Ihrem Buch der Protagonist den Lesern vornehmlich unsympathisch. Möchten Sie damit einer gesellschaftlichen Paranoia Vorschub leisten?

Nein. Ich weiss nicht, ob Albert, der Ich-Erzähler, so unsympathisch ist. Zu Beginn erfährt man, dass er seinen Sohn verloren hat, diese Tragödie, dieses Leid stiftet Identifikation. Bald jedoch wird klar, dass der Mann psychisch nicht auf der Höhe ist, er nicht vollständig zwischen Wirklichkeit und Imagination unterscheidet. Ich wollte kein Feindbild aufbauen, sondern Gut-Böse-Schemata durchbrechen, den Täter nah heranholen; das schafft ein Spannungsfeld. Die Leserin muss sich überlegen: Ist Albert der Protagonist oder nicht eher der Antagonist, der Gegenspieler? Wer ist dann der Held, das Mädchen oder der Schriftsteller? Sie muss um die Ecke denken, ihr Empathievermögen stärken.

Aber das pathologische Moment, die Geisteskrankheit, ist bei Ihnen expliziter als in anderen Texten, als, sagen wir, in «Der Tod in Venedig».

Ja, das kann sein. Das Verschmelzen von Wirklichkeit und Imagination passt zur Frage nach der Urheberschaft, die der Roman stellt: Erzählt Albert, handelt es sich gar um die Biographie, die er über den Schriftsteller Jean Mason schreibt? Oder lesen wir den Roman des Schriftstellers Mason? «Der Tod in Venedig» empfinde ich in der Erinnerung als dunkel romantisch. Möglicherweise fehlt ein kritisches Moment, oder es ist anders gelagert. Thomas Manns Buch ist zu einer anderen Zeit erschienen. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die sehr stark moralisch argumentiert, so, dass manchmal sachliche Diskurse verunmöglicht werden. Problematisch ist dabei nicht das moralische Denken, die Moralkeulen sind es. Ich hoffe, dass die Leser mein Buch genau lesen, nicht, dass es Missverständnisse gibt.

Was meinen Sie mit Missverständnissen?

Bezüglich meines eigenen Standpunktes. Das Buch ist ja in der Ich-Perspektive erzählt. Es gibt Leute, die bei einem Stichwort rot sehen, das Buch vorverurteilen und sich nicht weiter mit ihm auseinandersetzen wollen. Dieser Prozess, der eben genau die moralische Dimension des Buches ausmacht, findet so nicht statt. Dann kann man auch nicht mehr über das Buch sprechen.

Sind Sie auf solche Fragen vorbereitet?

Ja, ich hoffe es.

In diesem Zusammenhang spielen ausgerechnet die Hunde in Ihrem Roman eine wichtige Rolle. Der Windhund des Mädchens hat es auf Albert Keller abgesehen.

Ja, der Hund ist eigentlich die einzige «Figur», die merkt, dass mit dem Ich-Erzähler etwas nicht stimmt.

Auch Ihr Autorenfoto zeigt Sie mit einem Windhund auf dem Sofa.

Meinem Windhund. Ich habe zwei. Ich liebe meine Hunde, sie sind sehr wichtig für meine Arbeit. Sie sitzen auf dem Sofa und schlafen, während ich arbeite; ich bin nicht allein und habe dennoch Stille. Windhunde strahlen eine Ruhe aus, die eine gute Atmosphäre schafft.

Solche Verschachtelungen gehören zum Spiel des Buchs: In einer Szene versichern sich Keller und Jean Mason, gegenseitig Bücher über sich zu schreiben, und der Leser weiss nicht, ob er eines davon vorliegen hat. Ein Kritiker heisst wie ein Anagramm Ihres Namens. Ging es Ihnen gar nicht um die Provokation, sondern um die erzählerischen Kniffe?

Ich habe mich im Vorfeld mit Theorien zur zeitgenössischen Kunst auseinandergesetzt. Wenn man heute in eine Ausstellung geht, kann man aktiv mittun, das Kunstwerk verändern, und so wird man selber Teil des Kunstwerks. Meine Frage war, wie dies in der Literatur Entsprechung finden könnte, ohne dass die Leserin selber zum Stift greifen und schreiben muss. Wenn sie derart in das Geschehen und in die Fragestellungen meines Romans hineingezogen wird, dass sich bei ihr ein Prozess in Gang setzt, wäre das in meinem Sinne.

Sie nannten zu Beginn des Interviews den Begriff «Empörung».  

Ja, Empörung ist wichtig. Wir erhalten heute schreckliche Nachrichten von Verbrechen an Kindern und Erwachsenen, etwa aus Syrien. Flüchtende ertrinken im Mittelmeer. Obwohl dies reale Verbrechen sind, empören wir uns kaum. Mein Buch handelt von einem Verbrechen der Phantasie, und man empört sich. Das ist paradox. Ich glaube, dass hier etwas Wichtiges drinsteckt.

Was finden Sie das Empörendste an Ihrem Buch?

Einerseits, dass ein Unrecht geschieht; ein junges Mädchen wird vergewaltigt. Andererseits wird dies aus der Ich-Perspektive des Täters erzählt; als Leserin, als Leser nimmt man dessen Position ein. Das ist empörend, eine Herausforderung, setzt aber, wie ich hoffe, auch einen Prozess in Gang.

Mit Ihrem Roman «Niedergang» (2013) waren Sie auch schon für den Schweizer Buchpreis nominiert. Verfolgen Sie den aktuellen Buchpreis?

Nur am Rande, ich muss ja auch noch arbeiten. (Lacht.)

Haben Sie einen Favoriten?

Ich habe noch keines der Bücher lesen können. Christian Kracht hat den Preis vielleicht nicht nötig, aber er hätte ihn auf jeden Fall verdient.

 

Roman Graf: Mädchen für Morris. 304 S. Albrecht Knaus Verlag 2016.