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Ahnen der Ahnen
In ihrem neuen Roman «Unter offenem Himmel» spürt die in der Schweiz und in Norddeutschland lebende Autorin Katharina Geiser einer Familie über fünf Generationen nach. Inspiriert dazu hat sie ihr eigener Stammbaum.
Zwei Frauen in Bewegung
Klara ist Buchhändlerin. Sie ist überlegt, still, will weder heiraten noch Kinder haben. Eigentlich ist in ihrem Leben alles sehr normal und – so empfindet das Klara wohl auch – etwas langweilig. Doch dann kommt alles anders: Um herauszufinden, was sie mit ihrem einstigen Geliebten Paul verband oder noch immer verbindet, sucht Klara sein norddeutsches Heimatdorf auf. Vielleicht ist dort gerade wegen des offenen, grossen Himmels (gefühlt) mehr möglich als in den Schweizer Tälern mit ihren kleinen Himmelsausschnitten.
Nach einem Strickmuster, das Autor*innen wie Peter Stamm geprägt haben, kommt die Erzählung ins Rollen: Die Hauptfigur macht sich auf den Weg und löst mit dieser Bewegung weitere Bewegungen in der Erzählung aus. Über die Beziehung zu Paul gewinnt Klara keine Klarheit, dafür lernt sie vieles über ihre Familiengeschichte. Die Reise in den Norden konfrontiert sie nicht nur mit ihrer eigenen Vergangenheit, sondern katapultiert sie noch vier Generationen weiter zurück: bis zu ihrer Ururgrossmutter Elise.
Elise stammt aus einem kleinen Dorf bei Thun und wird als junge Frau Mutter eines unehelichen Kindes. Der Vater des Kindes wendet sich von ihr ab. Kurz darauf stirbt Elises Mutter, woraufhin sie ihre Rolle im Haushalt übernimmt. Die Stiefmutter, die sie bald bekommt, ist eine, wie wir sie aus dem Märchen kennen. Elise verlässt die Familie, überlässt ihr Kind ihrer Schwester und geht nach Zürich – mit dem Plan, ihr Kind später nachzuholen. Um schnell an Geld zu kommen, prostituiert sie sich.
Bald lernt Elise einen Freier näher kennen, den Taglöhner Beni. Mit ihm beginnt sie ein bürgerliches Leben. Doch was anfangs nach dem perfekten Alltag aussieht, wird schnell zum perfekten Alptraum: Kinder, die sterben, und ein Mann, der dem Alkohol verfällt. Die Ehe hält den dramatischen Geschehnissen nicht stand.
Ausgerechnet in diesen «alten» Kapiteln steckt viel Aktualität. Erschreckend stark erinnern die Reaktionen auf den Ausbruch der Spanischen Grippe an Kommentare, die wir im Kontext der heutigen Pandemie hören. Elises Nachbarin berichtet, die Seuche sei von den Russen eingeschleppt worden; auf den Baustellen sagt man, die Italiener seien schuld; wieder andere meinen, dass die Chinesen die Grippe in Seidentuchballen nach Europa geschickt hätten.
Die Grobheit im Detail
Trotz des oft schweren Inhalts und den vielen Figuren gelingt es dem Roman, den erzählerischen Schwung, den er im ersten Kapitel aufnimmt, beizubehalten. Dieses beschwingte Erzählen verbindet die Kapitel und die an die Buddenbrooks erinnernden Generationenumfänge spielend. Neben der Dynamik sticht die Genauigkeit des Erzählens ins Auge. Anekdoten der Schweizer Geschichte zeugen von der sorgfältigen Recherchearbeit der Autorin und erwecken die Szenerie zum Leben: So erzählt der Roman zum Beispiel von der Berner Zeit, die eine halbe Stunde vorgestellt werden musste, oder vom ärmlichen Alltag im Mattequartier, das heute als kleines alternatives Dörfchen mitten in der Stadt wahrgenommen wird. Der Roman bietet aber auch weniger interessante Details, ohne die er prima auskommen würde: Die Beschreibung von Pauls Rücken zum Beispiel, der beim Bücken rausblitzt oder die Tatsache, dass er Cabrio fährt. Die Figur, die sehr grob gezeichnet ist und die Geschichte keinen Zentimeter weiterbringt, erobert definitiv nur Klaras Herz.
Mehr als Ahnenforschung
Doch was ist die Motivation, zu diesen Details vorzustossen und die eher unspektakuläre Familiengeschichte zu erzählen? Wie Geiser im SRF-Format «52 beste Bücher» berichtet, ist es ein persönliches Interesse, das sie zum Stoff des Romans führte. Sie fing an, ihren Stammbaum zu erforschen und stiess dabei auf ihre Verwandte Elise, die sie zum Schreiben inspirierte. Über die Vergangenheit zu erzählen, hat in diesem Fall nicht in erster Linie mit der Faszination an der anderen, vergangenen Zeit zu tun, sondern vor allem mit dem Wunsch, durch die Auseinandersetzung mit den Ahnen das eigene Leben besser zu verstehen.
Auch wenn ein persönliches Anliegen dahintersteckt: Geisers Roman bleibt nicht bei den eigenen Verwandten stehen. Es geht nicht zuletzt um die Arbeiterbewegung, um die Art, wie Frauen mit verschiedensten Ungerechtigkeiten umgehen – darum, wie sie ihr Leben meistern und sich gemeinsam organisieren und unterstützen. Zusätzlich hinterfragt ihr Roman durch seine weibliche Genealogie die gesellschaftlich eingeschliffene Gewohnheit, die Geschichtsschreibung (und das Geschichtenschreiben) an männlichen Eckpfeilern festzumachen.
Der Roman enthüllt in leichtfüssiger Sprache ein Stück Schweizer- und Familiengeschichte aus zwei persönlichen, weiblichen Perspektiven, ohne beschönigen zu wollen. Die Stärke des Buchs liegt in der Beschreibung der Details, den Bezügen zu unserer Zeit und zwischen den Zeilen. In diesem Dazwischen setzt auch der Titel an: Der «offene Himmel» greift die Durchlässigkeit von Raum und Zeit und die dadurch mögliche Verbindung mit früheren Generationen auf und stellt uns vor die Frage, wo unsere eigene Geschichte an die unserer Vorfahren anschliesst – und wo sie offen bleibt.
Katharina Geiser: Das Leben ist ein wilder Garten. 320 Seiten. Salzburg: Jung und Jung 2020, ca. 36 Franken.