KW06
Alles kann, nichts muss. Klettertierlügen, Stolpersteinverlegungenund viel Sinn fürs Echte

Impressionen vom 14. Internationalen Basler Lyrikfestival (27.-29.1.2017)
Impressionen vom 14. Internationalen Basler Lyrikfestival (27.-29.1.2017)
Könnten Sie aus dem Stegreif eine Schweizer Lyrikerin nennen? Die sich vielleicht gar noch des Lebens erfreut? Macht nichts. Oder eben doch: «Sein ist wahrgenommen werden», spekulierte schon vor 300 Jahren der Philosoph George Berkeley und nahm damit nicht zuletzt auch die mediale Verstärkerfunktion des Internationalen Basler Lyrikfestivals vorweg. Dieses stellte am vergangenen Wochenende bereits zum vierzehnten Mal das Stiefkind des kommerziellen Literaturbetriebs ins wärmende Rampenlicht und versuchte gemäss Ankündigung mit seinem «breit gefächerten Angebot das Interesse der Öffentlichkeit und der Medien auf die Gattung Lyrik zu lenken.» Was auch recht gut funktionierte: Neben dem vor ausverkauften Rängen spielenden Manuel Stahlberger, dem gebürtigen Basler Mathias Traxler und dem seit Längerem in der Schweiz lebenden Levin Westermann lasen auch die rheinländische Lyrikerin Julia Trompeter aus ihrem Debütband Zum Begreifen nah sowie der Berliner Tom Schulz, dessen jüngster Gedichtband Die Verlegung der Stolpersteine dieser Tage erscheint. Mit Dragica Rajčić, Oya Erdoğan und Farhad Showghi trafen sich auch zwei aus Kroatien und der Türkei emigrierte Autorinnen und ein tschechisch-deutsch-iranischer Autor zum Gespräch über die folgenreiche Entscheidung, in der Fremd- oder Zweitsprache Deutsch zu schreiben.
Alternative news
Gestartet aber wurde am Freitagabend in der Aula des Naturhistorischen Museums mit einem für lyrische Gefilde eher ungewöhnlichen Gast. Die vor allem als Romanautorin bekannte und gefeierte Nobelpreisträgerin Herta Müller fiel aus gegebenem Anlass aus der Rolle und bestritt mit poetischen Collagen, gefertigt aus Zeitungsschnipseln, einen Lyrikabend. Unter dem Titel Die Lüge ist ein Klettertier lieferte Müller ihren äusserst diskreten, doch umso treffenderen Kommentar zur Konjunktur des Postfaktischen, also dem spielerisch-ernsten Zusammenkleistern von Informationsfetzen zu alternative news. Der Kampf um die Deutungshoheit der Wirklichkeit, das weiss die dem totalitären Ostblock entstammende Müller nur zu gut, war schon immer ein Kampf um Worte und Bilder.
Beredtes Schweigen
Tags darauf, unmittelbar vor der zum Festival gehörenden Verleihung des Basler Lyrikpreises, fand im Literaturhaus ein sogenanntes «gläsernes Seminar» mit den Lyrikern Julia Trompeter und Tom Schulz statt. Diese stellten sich den Fragen und Thesen, die eine Handvoll Studierende der Universität Basel im Rahmen einer Lehrveranstaltung vorbereitet hatte.
Auch wenn die Deutungskategorien der engagierten Nachwuchsgermanistik regelmässig mit dem professionell-abgeklärten Selbstverständnis der beiden Gäste kollidierten, wurde im Laufe der Diskussion immerhin eines überdeutlich: das Unbehagen des Schriftstellers am analytischen Zugriff auf seine Texte. «Kann sein, muss aber nicht», lautete das Leitmotiv insbesondere bei Tom Schulz, dem 1970 in der DDR geborenen Routinier, der die goldene Regel des Kunstbetriebs, nämlich über Fragen der Poetik und Bedeutung beredt zu schweigen, aus dem Effeff beherrscht.
Umso erfrischender war neben so viel «Ach» und «Könnte ich jetzt nicht sagen» die Insistenz der äusserst präsenten und scharfsinnigen Studentin Rosanna Hilpert , die nachdrücklich auf einer mehr als bloss privatistisch-subjektiven Deutungsmöglichkeit lyrischer Texte bestand und das Gespräch nicht nur performativ, sondern auch fachlich vor dem freundlichen Verdämmern im lauwarmen Konsens bewahrte.
Das Authentische gewinnt
Blieb als Höhepunkt die Preisverleihung des mit 10‘000 Franken dotierten Basler Lyrikpreises, gestiftet von der altehrwürdigen Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel (GGG), ausgewählt von der Basler Lyrikgruppe um Rudolf Bussmann, Wolfram Malte Fues, Claudia Gabler, Rolf Hermann, Simone Lappert und Kathy Zarnegin.
Ausgewählt hatte die Kommission in diesem Jahr den bekennenden Provinzpoeten Walle Sayer aus Horb am Neckar. Noch interessanter als der Geehrte und dessen Werk war dabei das Signal, das mit der Wahl des 56-jähigren Schwarzwälders ausgesendet werden sollte. Wie Claudia Gabler in ihrer Laudatio offenherzig kundtat, galt es dieses Jahr ganz besonders das «Authentische» auszuzeichnen. Ob dieses nun ausgerechnet jenseits der Grossstadt im zeitlosen Schatten eines schwäbischen Kirchturms vor sich west, weiss wohl nicht einmal der sympathische Autor selbst. Mit dem sich denn auch die versammelte Basler Kulturszene freuen durfte, so exotisch sich auch der eher unbekannte Name zwischen bekannteren Vorgängern wie Klaus Merz oder Ron Winkler ausnehmen mochte.
Was es dieses Jahr programmatisch geschlagen hat, daran liess auch Thomas Bachmann von der GGG in seinem kurzen Grusswort keinen Zweifel. «Der Ton der Sprache», so Bachmann, «gerade der öffentlichen, wird wieder schärfer, aggressiver, totalitärer. Wollen wir dieser vergifteten Sprache widerstehen können, dann brauchen wir die geschärfte Wahrnehmung und Orte der Zuflucht.» Mehr gesellschaftliche Relevanz kann man der Lyrik kaum beimessen. Ob sie das verdient hat? Das dürften ihre häufig in engen Zirkeln vor sich hinschreibenden und vortragenden , teils hervorragenden Exponenten in Zukunft durchaus etwas selbstbewusster und entschiedener nach aussen tragen. Ein Mal im Jahr ist nicht genug – was nicht die schlechteste Erkenntnis ist, die ein Lyrikfestival befördern kann.