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Am Kreuzwort, am Kreuzweg

Mit dem «Schildkrötensoldat» erschafft Melinda Nadj Abonji einen verborgenen Helden - und einen Text gegen die Macht der Kollektive.
Das junge Leben des Zoltán Kertész ist eine Chronologie der Gewalt. Als Kind erleidet er bei einem Motorradunfall eine schwere Kopfverletzung. Der Unfall, der Nachlässigkeit des Vaters geschuldet, wird dem Opfer von den Eltern in einem nie enden wollenden Lamento vorgehalten: «Blöd wie eine Kanone» sei er geworden – dabei hätte er etwas erreichen können. Dass der Sohn vom Lehrmeister stumpfsinnig geprügelt wurde, damit er ihn als billige Hilfskraft beschäftigen kann, merken die Eltern nicht. Als Zoltán Kertész in die jugoslawische Volksarmee einberufen wird, um für sein Land zu kämpfen, soll aus ihm doch noch ein richtiger Mann und ein Held werden.
In ihrem in diesen Tagen erschienenen Roman «Schildkrötensoldat» reflektiert Melinda Nadj Abonji die Rolle eines Aussenseiters im Kontext des Jugoslawienkriegs, ohne jedoch historische Aufarbeitung beitreiben zu wollen. Wie schon im Vorgängerroman «Tauben fliegen auf» bleibt der Krieg reine Allusion; konkret wird er für die Protagonisten nicht. Kurz bevor Zoltán Kertész an die Front müsste, kehrt er heim. Die Besinnung auf das Narrativ eines Einzelschicksals ist derweil Kalkül. «Schildkrötensoldat» macht auf literarischem Weg wett, was während eines Krieges nicht gelingt: Das Individuum hochzuhalten, sich für einen Augenblick dem Imperativ eines Kollektivs zu entziehen.
Eine Absage an die Dokumentation ist «Der Schildkrötensoldat» dennoch nicht. Denn Zoltán Kertész dokumentiert. Wörter. Flüche. Beleidigungen. Sein Refugium ist die Sprache. Sich selbstredend als «König der Kreuzworträtsel» bezeichnend, findet er Halt im Verorten der Buchstaben in den schwarzen Rastern. Ein paradoxer Habitus, wenn man sich vor Augen führt, dass Zoltán Kertész selbst kaum zu kategorisieren ist. Sein Leben artikuliert sich als ein Austarieren der Extreme: Gott oder Teufel müsse er sein, sagen die Eltern, wenn Zoltán Kertész mit seinen himmelblauen Augen auf die Welt blickt.
Und es ist ein poetischer Blick, mit dem der Protagonist seine Umgebung einfängt – er konterkariert die Begrenztheit, welche ihm seine Eltern attestieren. Die Perspektive der geliebten Cousine, die kapitelweise mit den Berichten von Zoltán alternieren, relativiert die Ignoranz der Eltern und Mitstreiter des Soldaten weiter: «Er nahm alles auf, was da war, und dazu gehörte auch das Verborgene, das, was im Verborgenen bleiben sollte» heisst es über ihn. Es ist diese gesteigerte Wahrnehmung, die charakteristisch für den Titelhelden, immer wieder zur Überforderung führen. Dann «drücken sich seine Gedanken an die Wände seines Kopfes» und zwingen ihn zum Rückzug. Nicht umsonst trägt Zoltan Kertesz die Attribute einer Schildkröte: Sein Leben ist von Beginn weg im Transitorischen angelegt.
Und so vermag es auch nicht zu erstaunen, dass das Grab des jung verstorbenen Soldaten mit dem Blick, der mehr weiss als die anderen, am Kreuzweg Jesus Christus zu liegen kommt. Offen bleibt nur mehr die Frage, wem dieses Einzelschicksal letztlich gedient – wem es gehört hat: «Dem Staat? Gott? Den Eltern? Der Luft? Uns selbst? Dem Tod?».
Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat. 173 Seiten. Berlin: Suhrkamp 2017. 28.90 CHF.