KW39
Am Vierwaldstätter Meer

Annette Hugs «Wilhelm Tell in Manila» ist eine faszinierende kulturgeschichtliche Spurensuche, die nicht nur die Wanderung einer helvetischen Erzählung nach Südostasien nachverfolgt, sondern im Vorübergehen auch noch ein ganz eigenes poetisches Programm entwickelt.
Annette Hugs jüngster Roman – ihr dritter, um genau zu sein – verarbeitet eine bemerkenswerte Marginalie der Weltliteratur: die im Winter 1886 erfolgte Übertragung von Schillers Wilhelm Tell ins Tagalog durch den philippinischen Freiheitshelden, Schriftsteller und Augenarzt José Rizal. Tatsächlich ist Hugs «Wilhelm Tell in Manila» dabei einem waghalsigen Kulturexperiment auf der Spur: Wilhelm Tell, der so lange schon starr auf den Fünflibern verharren muss, wird durch besagte Übersetzung in den Umlauf globaler Diskurse gebracht. Fortan durchzieht er als «Guillermo» philippinische Gebirge – und die historische Stabilität des Mythos beginnt sich zu verflüssigen. Ob sein Apfelschuss eine Heldentat ist oder kopflos, ob er die Freiheit entfacht oder gerade gefährdet, ist hier noch nicht ausgemacht: im Blick des Übersetzers ordnen sich die Dinge neu. Vor allem aber greift das Drama auf Rizals eigene Geschichte aus und schreitet über ihn hinweg: Im Gegensatz zu Wilhelm Tell, der in der Unsterblichkeit des Mythos in Sicherheit ist, wird José Rizal zehn Jahre später, obwohl er sich gegen eine gewalttätige Befreiung aus der spanischen Kolonialmacht aussprach, in Manila als Revolutionär hingerichtet.
Es ist gerade die aussereuropäische Sicht des Kolonisierten, die Rizals Nachdenken von Rizal über Wilhelm Tell und Gessler, über Hedwig, Walter Fürst, Rudenz, Melchtal und die Stauffachers ein besonderes Gewicht verleiht. Es ist im Wesentlichen nicht die referenzierte Historie, an der sich Rizals Revolutionsgeist entzündet, sondern die Sprache Schillers. Präziser: Die Differenz zwischen der deutschen Sprache und dem Tagalog, dessen Verbformen alle beschriebenen Handlungen vielfach ausdifferenzieren. Den Verben, die im Text auch einmal als «Kunstwerke» bezeichnet werden, kommt ein feuriges, pflanzenartiges Eigenleben zu. So lässt Rizal «in seiner Kammer die Verben wachsen. Sie legen sich am Anfang und in der Mitte neue Silben zu, wuchern aus ihrem Kern heraus und leiten den Blick der Zuhörer (…).» Es ist diese Unmittelbarkeit des Wachsens, die den Leser an den Bewegungen der Sprache teilnehmen lässt und den Geschichten, die sich daraus ergeben. Dies gibt Annette Hugs Roman eine entschiedene Radikalität und Konsequenz. Es lässt sich nicht über Freiheit und Macht schreiben, ohne der Sprache selbst ihre Freiheit und Macht einzugestehen. Die beeindruckende Fülle an Weltwissen – von Vulkanausbrüchen, über Adelbert von Chamissos Reise um die Welt und Augenoperationen in Heidelberg bis hin zu, ja, den tagalischen Verben – wirkt darum nie aufgesetzt, sondern ist Folge des freien Wucherns der Worte. Und genau hierin liegt das poetische Programm dieses Textes, vielleicht sogar: das poetische Programm Annette Hugs.
Aber wer sind die Zuhörer, an die Rizal in Leipzig denkt? Es sind einerseits jene Filipinos, die sich nach der Befreiung aus der spanischen Kolonialmacht sehnen, andererseits die Vertreter der spanischen Kolonialverwaltung selbst. Dabei wird Rizals zum Teil selbst bereits künstlich gewordener Rückgriff auf das Tagalog, das von den Spaniern nur oberflächlich beherrscht wurde, zu einem Akt des Widerstands: «Wenn Tell in Kalamba auf die Bühne tritt, werden die Spanier in der ersten Reihe nicht verstehen, was mit dem totoo passiert, wo die Wahrheit herkommt, wie sie sich verbreitet und laut wird (…).» Und laut wird die Wahrheit schon in den kalten Nächten Leipzigs, wo Rizal, wenn er nicht übersetzt, unruhig träumt. Aufmerksam registriert er tektonische Verschiebungen, ein Beben im Inneren der Erde: Werden die Alpen eines Tages ausbrechen? Kann jeder Boden wanken? Seit er Kant gelesen hat, geht Rizal davon aus, dass die unterirdische Gemeinschaft der mittelländischen Gewässer mit dem Meer verbunden ist, dass es, wenn es an einem Ort brodelt, überall brodelt, auch wenn die Oberfläche noch ruhig bleibt. Wenn sich also die Schweizer Bauern in den Tälern erheben, wird es auch in den Philippinen geschehen. Es gilt nun, das unterirdische Brodeln in ein überirdisches zu übersetzen. Über diesem Unterfangen aber verweben sich die Schweizer Alpen und die philippinischen Berge. Die Schweiz bekommt einen Zugang zum Meer: zum Vierwaldstättermeer.
Annette Hug: Wilhelm Tell in Manila. 198 Seiten. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2016. 28,90 CHF.