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An Dylan denken?

Literaturpreise sind Schnittstellen im kulturellen Kreislauf von symbolischem und ökonomischem Kapital: Im Namen eines Stifters oder Verbandes fliessen Geld und Prestige. Und zwar in beide Richtungen. Dabei lassen sich einige Grundkonstellationen beobachten, die Beifall und Bares in eine möglichst kritikresistente Balance zu bringen versuchen.
Weniger interessant sind auf den ersten Blick die üblichen Vergaben kleinerer Preise an weniger durchgesetzte Autorinnen und umgekehrt: Wenn also Marcel Beyer den Büchner-Preis erhält und Maria Müller die Gabe der örtlichen Stadtbibliothek, ist das wenig aufsehenerregend. Literaturpreise wollen aber Aufsehen erregen – weshalb es bei dieser Auslegeordnung selten bleibt. So kann sich eine kleine Literaturgesellschaft, vielleicht einem vergessenen Autor gewidmet, durch die Vergabe an einen grossen Namen selbst ins Gespräch bringen oder darin halten. Damit der Preis auch angenommen wird, müssen allerdings entweder die Reputation des Preises oder das Preisgeld stimmen. Ersteres ist beispielsweise beim Preis der SWR-Bestenliste oder beim Gustav-Regler-Preis, letzteres beim Würth-Preis für europäische Literatur der Fall. Dieser wiederum steht stellvertretend für eine weitere typische Konstellation, die den Kreislaufcharakter der Kapitalströme offenbart: Vergeben Unternehmen und Kommunen Literaturpreise, gern verbunden mit einer temporären Residenzpflicht als Stadtschreiberin oder Festredner, so versehen sich die Verwalter und Multiplikatoren des schnöden ökonomischen Kapitals mit dem soziokulturell prestigeträchtigen Abglanz der Kunst, stiften einen oder mehrere kulturelle Anlässe und dürfen sich als Mäzene auf die Schultern klopfen lassen. Meistens eine typische Win-Win-Win-Situation für alle Beteiligten, solange das örtliche Publikum kulturhungrig, der Ausrichter nicht im Waffenhandel tätig und der Veranstaltungsort mit dem Schnellzug zu erreichen ist.
Im Fall des Deutschen und des Schweizer Buchpreises präsentiert sich die Lage noch einmal verwickelter. Hier werden, wie der Name schon sagt, keine Lebenswerke von Akademien ausgezeichnet wie beim Büchner- oder Breitbach-Preis, keine feuilletonistischen Jahrgänge kanonisiert wie beim Preis der SWR-Bestenliste, keine geistigen Nachfahren erkoren wie beim Siegfried-Lenz- oder Uwe-Johnson-Preis, und hier schmücken sich auch keine Multis mit dem Feigenblatt der Kultur. Stattdessen geht es, wie bereits das über Monate sich erstreckende Rahmenprogramm zeigt und auch die Statuten nicht verhehlen, um Aufmerksamkeit für die ausgewählten Bücher. Und damit, lieber kurz- als mittelfristig, um Verkaufszahlen. Mit diesen aber tun sich, wie nicht nur die Leserinnen und Leser des französischen Soziologen Pierre Bourdieu wissen, die meisten Kulturmenschen schwer. Dieses Schwertun fällt naturgemäss umso leichter, je weniger die eigene Stellung von diesen Zahlen abhängt. Das gilt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, heute aber wohl nur noch für jene, die in leeren Literaturhausreihen primär die Chance erblicken, ihren Lieblingsautoren im «intimen» Rahmen zu Leibe zu rücken. Alle anderen dürften sich über jede, auch auf eher literaturfernen Wegen erreichte Form von Aufmerksamkeit für das Medium Buch mittlerweile vorbehaltlos freuen.
Der Schweizer Buchpreis ist deshalb mit dem Verweis auf den mitausrichtenden Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband ebenso wenig wie durch das damit verbundene, von Monika Maron ausgerechnet im Gründungsjahr des Schweizer Buchpreises 2008 gegen das deutsche Vorbild geschleuderte Verdikt des reinen «Marketingpreises» nicht gleich symbolkapitalistisch bankrott. Bücher werden immer beides sein, Stapelware und Kulturgut. Eins vom anderen zu trennen, geht an der literarischen Kommunikation vorbei. Deren Reiz ja nicht zuletzt darin besteht, dass jede Aktion, die über die stumme Lektüre hinausgeht, auf hundert Arten zum Widerspruch reizt: Was dem einen Pop, ist der anderen zu platt, was der einen pointiert, erscheint dem nächsten unterkomplex, was der übernächsten zu elitär, trifft den gewiss nicht letzten ins Mark. Wer sich nicht anders helfen kann, möge im Buchpreiszirkus das Äquivalent zur verlagsüblichen Quersubventionierung sehen: Ohne populäres Sachbuch kein bibliophiler Lyrikband, ohne Verlagsriesen kein feines Nischenprogramm, ohne Buchpreisspektakel keine hundertfach ohne grosse Geste im Hinterzimmer ausgehändigte Kulturförderung. Dass letztere den gleichen, kaum je objektiv zu nennenden Selektions- und Marketingmechanismen unterliegt, die in der Buchpreis-Rallye öffentlichkeitswirksam ausgestellt werden und vom Auflagenmillionär Daniel Kehlmann einst als «Demütigung» bezeichnet wurden, sei hier nur am Rande erwähnt.
Das Schöne an Literaturpreisjurys ist vor diesem Hintergrund, dass sie es ohnehin fast allen nicht recht machen können. Und dies wissen. In der beständigen Interaktion mit den eingebildeten Publikumserwartungen und der Historie des Preises kommt es dann zu jenen Ausschlägen, die Literaturpreise und damit ihren Gegenstand im Gespräch halten. Mal erhält ein Unbekannter wie Walter Kappacher oder Jean-Marie Gustave Le Clézio den bekanntesten Preis, mal ein halb Fachfremder wie Peter von Matt oder Bob Dylan, mal wird eine Novelle bester deutscher Roman, mal besteht der ganze Witz eines Preises gerade darin, dass ihn A auch in diesem Jahr nicht erhält und B ihn ganz sicher ablehnen müsste. Mal gefallen sich Jurys gerade darin, mit allen Erwartungen zu brechen, im nächsten Jahr bestimmt dann vielleicht das angekratzte Renommee des Preises das Kalkül, im übernächsten dann die Rücksicht auf die Sponsoren, ein fälliges politisches Statement, eine zufälliger gemeinsamer Liebling oder eine skandalöse Entscheidung der unmittelbaren Konkurrenz. Wer das alles unwürdig findet, mag beim Wort «Buchmesse» weiter an Kathedralen denken; wer in ernster Erregung die ewigen Fehlentscheidungen zugunsten der «richtigen» Kandidaten in den Kommentarspalten zu korrigieren versucht, hat das Spiel nicht verstanden, hält es aber prächtig am Laufen.
So hat, um abschliessend einige aktuelle Beispiele für diese von einzelnen Interessen gar nicht zu steuernde Aufmerksamkeitspolitik zu nennen, Peter Stamms diesjährige Nichtnominierung durch die als «originalitätssüchtig» getadelte Schweizer Jury zweifelsohne höhere Wellen geschlagen als die eine oder andere Nominierung. So bleibt fraglich, ob Michelle Steinbecks Debüt ohne die deutsche Longlist überhaupt ins Schweizer Fernsehbewusstsein gerückt wäre, ob Christian Kracht seinen späten Erscheinungstermin mit Blick auf den Schweizer Buchpreis gewählt und sich damit vielleicht bewusst um seinen Platz auf der deutschen Longlist gebracht hat, ob Alex Capus als Bestsellerautor gar nicht eingereicht hat, warum Lukas Bärfussʼ Hagard immer noch nicht draussen ist, wo sich dieser Hoehtker versteckt, welche Autorinnen und Autoren noch auf der Liste fehlen und so fort. Die Furcht, der Lichtkegel der Shortlist verbanne alle nicht Berücksichtigten ins Dunkel der ohnehin kurzen Saison, sieht sich, vielleicht zu Leidwesen einiger Nominierter, keineswegs bestätigt. Ähnliches gilt auch für die Verleihung des Deutschen Buchpreises an Bodo Kirchhoff. Mag sein, dass nach einigen weniger marktgängigen Preisträgern der letzten Jahre nun mit Blick auf die co-finanzierenden Buchhändler ein Text an der Reihe war, der zwei kultivierte Kulturwandelverlierer noch einmal gen Italien führt. Wo es zwar auch um Flüchtlinge, vor allem aber um das Lamento um die unwiederbringlich verlorenen Buch- und Hutkunden geht und das bescheidene Glück in geretteten Fellen. Alter Hut oder Klassiker, der Markt wird es entscheiden. Dem Favoriten Thomas Melle hat das, weder in Verkaufs- noch in Klickzahlen, wohl ebenso wenig geschadet wie dem Schweizer Buchpreis: Nachdem aus Buchhändlerkreisen schon Unmut ob des diesjährigen Nobelpreises für einen Sänger laut wurde, der kaum Bücher auf Lager hat, ist der stationäre Handel mit Kirchhoffs handlichem Siegertext und dessen voluminöser Backlist gut versorgt, der Weg für eine auch literarisch eigensinnige Entscheidung also frei. Um zum Beispiel einfach aus freien Stücken an Dylan zu denken. Was daraus folgt, «is blowing in the wind». Und schon bald auf allen Kanälen, mitsamt der notwendigen Debatte. Und ja, «Propaganda, all is phony», so weit waren wir schon. Also doch, gelegentlich, an Dylan denken, und zum Mitmachen wird ja ohnehin niemand gezwungen.