KW38

Auf Kurs

Lukas Bärfuss

Der Schweizer Buchpreis geht in sein zehntes Jahr. Seine erklärte Leitwährung Aufmerksamkeit dürfte damit einige Kurssprünge verzeichnen. Profitieren können davon in diesem Jahr mit den Nominierten Julia Weber, Urs Faes, Martina Clavadetscher, Lukas Holliger und Jonas Lüscher fünf Autorinnen und Autoren, die das aktuelle Schweizer Literaturschaffen (fast) in seiner ganzen Breite repräsentieren. Lyrik spielt dabei kaum eine Rolle, lyrische Schreibweisen hingegen schon.

Von Christoph Steier
19. September 2017

Poetische Hybride

Dass mit Ausnahme von Urs Faes nur Autorinnen und Autoren mit ersten oder zweiten Prosabüchern vertreten sind, macht die diesjährige Auswahl keineswegs zum Debütantenball. Während Julia Webers zu Recht viel beachtetes Debüt Immer ist alles schön die Bühne mit einer erzählerischen Souveränität betritt, der bei aller poetischen Empathie für ihre junge Hauptfigur Anais nichts Tastendes anhaftet, sind Martina Clavadetscher und vor allem Lukas Holliger als zweiter Prosa-Debütant bislang vor allem als Dramatiker hervorgetreten. Von einer überragenden Dramaturgie wird denn auch Holligers Basel-Roman Das kürzere Leben des Klaus Halm getragen, der das angejahrte Narrativ vom angezählten Mittelstandsmann zu einer kompositorisch kühnen Doppelgänger-Erzählung umdichtet. Lyrischer hingegen geht es in Martina Clavadetschers  Knochenliedern zu, eher Partitur als Roman, die die in der jüngeren deutschsprachigen Literatur äusserst beliebte Dystopie ästhetisch noch einmal völlig neu erschliesst. Wie auch Julia Weber beschert Martina Clavadetscher der Schweizer Gegenwartsliteratur gleich mehrere aussergewöhnliche Frauenfiguren, die lange nachhallen. Dass beide Texte bei aller Gegensätzlichkeit an einer leisen, aber nachdrücklichen Restitution des Märchens und damit romantischer Schreibweisen arbeiten, beschert der diesjährigen Auswahl eine besonders reizvolle Konstellation.

Lebenszeichen vom Roman

Während Clavadetscher, Holliger und Weber ihre poetischen Funken aus der Gattungshybridität schlagen, vertrauen Urs Faes und Jonas Lüscher auf eher klassische Formate. Faesʼ autobiographisch gefärbtes «Fahrtenbuch» Halt auf Verlangen nimmt die wiederholten Tramfahrten zur Chemotherapie zum Anlass zur Retrospektion, wobei neben Kindheit und Jugend vor allem die Initiation zum Autor und damit immer schon die Verwobenheit von Erleben und Imagination die Hauptrolle zu spielen beginnt. Auch ohne umständliche Exkurse zur Autofiktion ein gewichtiger Text, der bald ein halbes Jahrhundert schriftstellerischer Existenz reflektiert und ganz sicher Anlass gibt, ein grosses, ebenfalls in allen Gattungen beheimatetes Werk noch einmal genauer anzuschauen. Ganz genau hingeschaut hat auch Jonas Lüscher, der nach der gefeierten Novelle Der Frühling der Barbaren mit Kraft seinen ersten Roman vorgelegt hat. Ein weit ausgreifendes Panorama, das neben der Zeitgeschichte der Bundesrepublik vor allem die Zukunftsvisionen des Silicon Valley dem langen Atem eines Erzählers aussetzt, der sich für die Buddenbrooks ebenso interessiert wie für Tesla und Co. Während der Rhetorikprofessor Richard Kraft daran scheitert, Leibniz und West Coast zusammenzubringen, lässt sich Lüschers mal ironischer, mal humoriger Erzähler von den grossen Erzählungen der digitalen Moderne vorerst nicht beirren und vertraut ganz auf das gesellschaftskritische Erbe des europäischen Romans. Ohne Zweifel ein Höhepunkt des Buchjahrs, über den sich trefflich debattieren lässt.

Die Abwesenden

Angesichts der ausgewogenen Auswahl dürfte sich die Enttäuschung bei in letzter Zeit gut besprochenen Autorinnen und Autoren wie Noëmi Lerch, Tom Kummer, Michael Fehr, Tim Krohn, Alain Claude Sulzer, Christian Haller oder auch Carmen Stephan, deren schmaler Film-Roman It’s all true nicht zuletzt in einen aufregenden Dialog mit Christian Krachts letztjährigem Siegertitel Die Toten tritt, in Grenzen halten. Und das Lesepublikum darf sich ohnehin freuen, in diesem Jahr gleich ein Dutzend preiswürdiger Kandidaten zu entdecken. Wer sich genauer mit den Genannten auseinandersetzt, dürfte die diesjährige Auswahlarbeit der Jury übrigens umso höher einschätzen – aus einem starken Feld wurde ein sehr starker Stapel gemacht, der von vorne bis hinten gelesen gehört. Und dann zu weiteren Entdeckungen einlädt. Etwas lauter dürfte hingegen das öffentliche Erstaunen ausfallen, dass im Jubiläumsjahr gleich drei früher schon Ausgezeichnete mit ihren aktuellen Büchern nicht vertreten sind. Während Jens Steiner mit Mein Leben als Hoffnungsträger nicht seinen stärksten Roman vorgelegt hat, gehört Lukas Bärfussʼ Hagard zweifelsohne zu den Höhepunkten seines bisherigen Schaffens. Auch wenn sich spontan kein Text auf der Liste als klarer Austauschkandidat aufdrängt, wäre es doch interessant zu erfahren, ob ästhetische oder verfahrenstechnische Gründe den Ausschlag für die Nichtberücksichtigung des Preisträgers von 2014 gaben. Letzteres wäre sowohl hinsichtlich der Orientierungsfunktion des Preises für das Publikum als auch für die Autorinnen und Autoren selbst kaum zu wünschen – schliesslich versagt auch niemand Roger Federer den Antritt bei den Australian Open, nur weil er die schon einmal gewonnen hat. Spekulationen hierüber dürften seitens der Veranstalter gerne durch ein klares Reglement unterbunden werden. Unproblematisch ist hingegen der Fall der Dritten im Preisträger-Bunde – Melinda Nadj Abonjis Schildkrötensoldat wird erst in einem Monat erscheinen. Und damit sicher im nächsten Jahr ins Rennen gehen. Anlass und Zeit genug, das kleine Fragezeichen hinter einem Preis zu beseitigen, dem die Schweizer Autorinnen und Autoren kaum ein besseres Jubiläumsjahr hätten bescheren können.

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