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Aus Olten nichts Neues

Alex Capus' jüngster Roman «Königskinder» ist nicht in aller, aber doch in vieler Leute Munde und rangiert auf den Schweizer Bestsellerlisten erwartungsgemäss weit vorne. Shantala Hummler war für das Buchjahr bei der Vernissage im Zürcher Kaufleuten zugegen - und fand sich dort in einer eigenartigen Parallelwelt wieder.
Alles ist gut
So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Kein einziger freier Platz mehr, der glanzvolle Kaufleutensaal zum Bersten voll, die Lage eindeutig und ernst: Die versammelte Schar eingefleischter Capus-Fans sitzt hier bereit in den Startlöchern. Um Foto und Tonaufnahme bangend klammere ich mich an meine Tasche und peile einen Treppenabsatz vor der Bühne an, als mich unvermittelt eine rüstige ältere Dame energisch auf den freien Sitz neben sich winkt. Im Laufe des Abends wird sie unter Beweis stellen, dass selbst Moderator Martin Ebel, der sich gleich zu Beginn als Fan outen wird, keinen Schneid gegen Bad-Ass-Trudi* neben mir hat. Entschlossen schüttelt sie jeweils den Kopf, wenn Ebel Capus befragt und raunt ihre Kommentare selbstgewiss Richtung Bühne. Sie ist sichtlich erfreut, als Ebel sich zum Einstieg der Sympathie der Publikumsfangemeinde mit lobender und wohlwollender Huldigung des Literaten Capus vergewissert. Einmütige Eintracht herrscht zwischen den Fans auf und vor der Bühne: Königskinder ist ein gelungenes Stück Schweizer Literatur. Folglich bleibt dem Moderator für diesen Abend lediglich die Facetten nachzuzeichnen, in denen der Roman schillert und die Neugierde auf den Rechercheur und die persona Capus zu stillen.
Rezyklierhof der Klischees
Und so fällt der Rahmen dieser Lesung ganz in eins mit dem Programm von Königskinder, das sich heitere Harmonie auf die Fahne geschrieben hat. Max, bekannt als der autofiktionale Protagonist aus Das Leben ist gut, ist Autor und steckt mit seiner Frau Tina nachts in einem Toyota Corolla auf dem eingeschneiten Jaunpass fest. Doch in dieser Erzählwelt braucht sich niemand ernsthaft zu sorgen, alle drohenden Gefahren bleiben vollkommen harmlos. Auch das bieder-besserwisserische Geplänkel des Ehepaars bleibt davon nicht ausgenommen, denn – wie beruhigend – sie sind sich «in den grossen Dingen des Lebens immer einig». Bis zur Ankunft der Schneefräse im Morgengrauen vertreibt Max den beiden die Wartezeit unter der Wolldecke mit Geschichtenerzählen. Scheherezade light also, mit dem Unterschied, dass die Fabuliermanier von Max ausgiebig abgeschmackten Klischees frönt. Er erzählt von der Liebe zwischen dem eigenbrötlerischen Alphirten und Kuhflüsterer Jakob und der gut betuchten Bauerntochter Marie, die allen erdenklichen Widerständen trotzen: Weder das soziale Gefälle, noch Maries cholerischer Patriarchenpapa, noch die Wendungen der Weltgeschichte um 1800 können diese Turteltauben trennen. Bereits bei ihrer ersten Begegnung explodiert das Romanzenregister: Epiphanie, Sinn des Lebens, Seelenwanderung, der ganze Kosmos, Telepathie, alle werden sie in einem Moment und in wenigen Textzeilen entladen. Doch das ist erst der Anfang: Mit der Geschichte um den muskelbepackten und wildtiergleichen «Alpentarzan» Jakob wird eine Idylle des Land- und Bauernlebens sondergleichen heraufbeschworen. Zwar wird diese naive Stilisierung mit dem «Bauernpuppenhof», auf den die Schwester Louis XVI. Jakob beordert, durchaus vorgeführt. Dennoch bedient die Figur des Alphirten, der in unvergleichlicher Harmonie mit der Natur und seinen Kühen lebt, unreflektiert nostalgische Sehnsüchte.
Nach allen Seiten abgesichert
Die Geschichte habe Capus ja mehr gefunden als erfunden, wirft Ebel ein. Wie jeder der historischen Romane, die Capus veröffentlicht hat, basiert auch dieses Buch auf historischen Begebenheiten und bewegt sich auf dem Feld epistemischer Fragen wie derjenigen nach dem Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Dieser Problematik verleiht Capus in Königskinder eine Stimme, die sich jedoch bald als Abwehrmechanismus entlarvt, der jeglicher Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen gedenkt. Tina, die den Fabulierfluss von Max wiederholt mit kritischen Einwürfen unterbricht, kommt die undankbare Rolle der prinzipientreuen und immerzu empörten Literaturkritikerin zu. Sie darf Kitschalarm schlagen, energisch die Sexismus-Keule schwingen und im Erzähltakt nach Wahrhaftigkeit rufen. Leider wird ihr dabei die Chance verweigert, eine souveräne Position zu beziehen, denn der auktoriale Erzähler lässt sie bei jedem Einschub haarscharf am Ziel vorbeischrammen. Dass ihr Fabulierer-Gatte eine kitschige, romantische Geschichte nach Schema erzählt, dagegen ist nicht prinzipiell etwas einzuwenden. Unzählige Exemplare kanonisierter Literatur tun dies. Was Tina jedoch versagt bleibt, ist die Artikulation valider Kriterien für die Bewertung von Max’ Erzählung. Diese – wie auch die Rahmenerzählung – ist nämlich einfallslos und seicht, weil sie sich Klischees zum Programm gemacht hat. Und das ist nervtötend. Auch Tina darf das bemerken, doch ihre Einwürfe werden ausnahmslos abgeschmettert. Entweder beruft sich Max bei Verdacht auf Unglaubwürdigkeit auf die Autorität «historischer Tatsachen» oder auf die der Geschichte: Es gehe bei Geschichten nicht um die Meinung, sondern um die Geschichte. Mit dieser Tautologie wäre dann wohl rein gar nichts geklärt, ausser, dass Max leicht einfältig ist und dass ihm in seiner Unbeholfenheit nur die Flucht in patriarchales Gehabe bleibt. «Versuch’s einfach mal laufen zu lassen», sagt er zu seiner Frau, und wüsste frau es nicht besser, könnte man meinen, Capus hätte mit Königskinder eine Persiflage auf den Mansplainer geschrieben.
Ausverkauf der Regressionsphantasien
Es ist überwältigend, wie viele Stereotypen Capus auf 185 Seiten zu versammeln vermag. Entgegen Ebels Einschätzung wird hier aber nicht vorgeführt, sondern eifrig abgeklatscht, Druckstock um Druckstock. Die hyperbolischen Kapriolen, die Königskinder schlägt, gereichen weder zu Ironie noch zu kritischer Selbstreflexion, sie verhaften in ihrer mimetischen Funktion. Doch die Rechnung geht auf, die Kassen klingeln und der Hanser-Verlag setzt Capus regelmässig auf den Spitzentitelplatz, wie Ebel anmerkt. Unverständlich? Keineswegs. Mächtig ist die existenzielle Sehnsucht nach fetten Leitplanken, die Orientierung und Sicherheit versprechen und die Königskinder bestens bedient. Gleichermassen angestaubt wie die stereotypen Abklatsche ist aber auch die Erkenntnis, dass dieses Begehren reaktionäre, repressive und destruktive Auswirkungen hat. Im Angesicht jahrzehntelanger, andauernder emanzipativer Bestrebungen unterschiedlicher Gruppen drängt sich unausweichlich die Frage auf, wie harmlos es ist, wenn Unterhaltungsliteratur diese konservative Sehnsucht unbehelligt bedient.
Königskinder ist darauf ausgelegt, dass man sich kindergleich auf rosa Zuckerwatte bettet, wohlig eingemummt unter der Decke Nostalgiephantasien umhegt und über mal prüde, mal derbe Witz kichert. Gekichert hat Trudi neben mir an dem Abend oft, wie auch der Rest der Fangemeinde, wofür sich Ebel zum Abschied bedanken wird. Meine Mundwinkel haben sich hingegen kaum verzogen, dafür bin ich nun um ein paar Stirnrunzeln reicher und bin zumindest damit dem Stammpublikum Capus etwas näher gerückt.
* Name der Redaktion nicht bekannt.
Alex Capus: Königskinder. 176 Seiten. Hamburg: Hanser 2018. ca. 29 CHF.