KW47

Die Unsicherheit

Judith Keller

In diesem Herbst hat Judith Keller im «Gesunden Menschenversand» ihr Debüt «Die Fragwürdigen» vorgelegt. Nadia Brügger sprach für das Buchjahr mit der Autorin über Orte, die eigentlich Namen sind - und über Schwäne, die ihr Leben lang nur unsere Beine sehen.

Von Nadia Brügger
20. November 2017

Beginnen wir mal bei der Struktur des Buches. Bei der Lektüre der «Fragwürdigen», die sich ja über die Kapitel sozusagen von Tramhaltestelle zu Tramhaltestelle hangeln, befällt einen im Widerspruch zur konkreten Ortsangabe viel eher das Gefühl, es mit Ort- und Heimatlosigkeiten zu tun zu haben. Weshalb hast Du dich dennoch für diese doch sehr klare Strukturierung, die überdeutliche Angabe von Orten unserer Lebenswelt entschieden?

Ich suchte bewusst nach einer mehrdeutigen Strukturierung, die Raum für verschiedene Interpretationen lässt. Eigentlich sind für mich die Zwischentitel darum auch eher Namen als Orte. Ich habe mir das Zürinetz angeschaut und die mehrdeutigsten und seltsamsten Namen ausgesucht. Mich hat ein Ordnungsmuster interessiert, bei dem man genau nicht weiss, was es eigentlich ordnet. Wenn man herumgeht, ist man ja immer schon durch etwas geordnet, und man weiss aber nie, nach welchen Kriterien. Mich hat interessiert, dass so auch diesen Wörtern – wie etwa «Glatt» oder «Sukkulentensammlung» – begegnet werden kann. Eigentlich haben sie nichts mit uns zu tun, sie schützen uns auch nicht davor, ortlos zu sein, dennoch befinden wir uns aber mit den Wörtern, die ihrerseits irgendwie auch ortlos sind, in einer sonderbaren Beziehung. Gerade «Micafil» und «Elektrowatt» spiegeln für mich eigentlich die Ortlosigkeit. Und dann wollte ich aber doch nicht, dass es nur bei den Namen bleibt, sondern, dass dabei auch noch etwas geschieht. Ich bin zu jeder Station hingelaufen und habe mir Notizen gemacht und daraus die letzten Texte der Kapitel – allesamt «Die höchste Zeit» betitelt – geschrieben, in welcher die weit hergeholte Frau bei jeder Station haltmacht. Vielleicht könnte man sagen, dass es die weit hergeholte Frau gerade zu den weit hergeholtesten Namen der Haltestellen hinzieht. Gerade da spürt sie die Ungeduld nach der höchsten Zeit, die vielleicht alle Figuren miteinander verknüpft.

Wenn Du gerade die Ungeduld erwähnst: Was vermag die Kurzform, was der längeren Prosa verwehrt bleibt?

Die längeren Texte sind für mich die offeneren, sie kämen auch mit einem Satz mehr oder weniger aus, sie könnten weitergehen und sind darin in ihrem Wesen etwas zerzauster, weniger geschnitten. Die kurzen hingegen sind geschlossen und «gut rasiert». Es beschäftigt mich, wie es möglich sein kann, dass formale Geschlossenheit nicht auch gleich eine inhaltliche Geschlossenheit bedeutet. Von der Form her sind die kurzen Texte manchmal schroff, ich möchte aber, dass die Form etwas aufmacht, was über den Text hinausgeht. Das ist auch die Frage bei Pointen: Die kurzen Texte mit Pointe funktionieren zwar, aber sie haben durch die Pointe auch eine gewisse Kälte, die in den längeren Text weniger vorkommt. Ich glaube, ich bin süchtig nach den kurzen Texten. Sie wollen immer wieder entstehen. Gleichzeitig habe ich auch ein Misstrauen dieser Form gegenüber (das gegenüber langen Texten ist aber noch viel grösser), ob dadurch nicht alles zu ausgestellt, zu allein ist, ob es stört, dass nichts darin abgefedert werden kann. Ich schreibe lieber kürzere Texte, wenn ich einen Gedanken fassen will oder eine Formel für ein bestimmtes Verhältnis finden möchte, während ich bei den längeren Texten eher erzählen will, ohne Aufgabe. Man könnte also sagen: Es sind verschiedene Motivationen, die zu der jeweiligen Form führen.

Du hast einmal gesagt, dass Du denkst, Aichinger könne Dinge aussparen, die Kafka ausformulieren müsse. Ist die Kurzform also eine Aussparungskunst?

Ja, sicher. Ich möchte mir wahrscheinlich am liebsten alles ersparen.

Und gleichzeitig, weil du selbst den Begriff der Kälte ins Spiel gebracht hast: Muss nicht ein hoher Preis bezahlt werden, wenn durch die Form die Figuren nur verknappt und typenartig dargestellt werden können? Es fällt nämlich auf, dass die Erzählstimme dadurch, dass sie distanziert ist und nicht in die Geschichte involviert, beinahe etwas Höhnisches besitzt, die mich als Leserin auf mich selbst zurückwirft und mich fragen lässt, ob ich dazu angehalten werde, über die Figuren zu lachen. Liesse es sich also einrichten, Myrielle, die man mit einer gewissen Vorfreude verlässt oder Rüdiger, der mit sich nichts anzufangen weiss, lächerlich zu finden?

Ich möchte eigentlich, dass man gleichzeitig lacht und nicht lacht. Und dass man über sich selbst lacht, indem man über die Figuren lacht. Ist das möglich? Nehmen wir Myrielle: Für mich ist es eher traurig, aber dann eben auch lustig, dass eine Frau zum Beispiel nur darum begehrt wird, weil sich aus ihr gute Erinnerungen machen lassen, also aus Egoismus. Ich glaube, dass man Dinge lustig findet, weil man sie wieder erkennt. So finde ich es zum Beispiel sehr normal, dass man wie Rüdiger nicht weiss, was man mit sich anfangen soll. Die Leute in den Texten finde ich ja eigentlich recht normal, gerade weil sie so komisch sind. Am liebsten wäre mir, dass man unsicher würde, ob man über sie oder über sich lacht, denn eigentlich möchte ich immer in die Richtung der Unsicherheit zielen.

Zur Autorin

Judith Keller, geboren 1985 in Lachen (SZ), lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Nach Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien erschien 2015 ihre Erzählung «Wo ist das letzte Haus?» bei Matthes & Seitz als E-Book und wurde mit dem «New German Fiction» Preis ausgezeichnet.

An Deiner Vernissage hast Du im Gespräch mit Michael Fehr gesagt, dass das Schreiben über gesellschaftliche Konzepte wie die Arbeit dabei hilft, zu merken, dass es diese Konzepte überhaupt gibt, und dass sie bestimmte Dinge mit einem machen. Reicht es aber, schlicht um dieses Konzepte zu wissen und darum, was sie mit einem anstellen können, oder bräuchte es nicht viel eher noch eine Art Trost, wobei Trost vielleicht das falsche Wort ist? Reicht es also in dem Fall für Anatol, oder bräuchte er mehr?

Ja, also bei Anatol ist es vielleicht eine Art Trost, dass die Leute mit Bärten nachher wissen, weshalb er wieder bei ihnen ist. Die anderen Menschen haben seiner Situation gegenüber also kein Unverständnis, es ist eher allgemein bekannt, dass es so läuft. Im anderen Text zum Thema Arbeit mit dem Titel «Ausgerechnet» versucht Stani, durch das Wörtlichnehmen dieses Ausdrucks («Ausgerechnet er hat keine Arbeit») eine andere Haltung zu gewinnen: Dass es also nach der Rechnung auch stimmt, wenn er Enten füttert oder lange schläft. Nicht bei allen Texten ist das aber gleich. Deshalb finde ich, dass die weit hergeholte Frau so wichtig ist, weil sie eigentlich die ganze Ungeduld, die Mühseligkeit all dieser Menschen aufnimmt und es irgendwie deutlich wird, dass alle warten, aber auch noch etwas erwarten, dass noch etwas passieren kann.

Warum heisst sie eigentlich die weit hergeholte Frau? Kommt sie von weit her?

Es ist weit hergeholt, dass es sie gibt: Sie ist eine relativ unwahrscheinliche Frau. Weit hergeholt sind aber auch unsere Probleme, also zum Beispiel, dass man der Arbeit hinterherrennen muss.

Ich wollte jetzt einfach Trost.

Ja, es gibt aber keinen Trost. Diese Probleme sind ja so normal. Trost kann es ja nur geben, wenn etwas Aussergewöhnliches geschieht. Aber die Leute hier leiden an Normalem.

Aber zeigen deine Geschichten nicht gerade, dass man getröstet werden kann oder sollte eben auch über Dinge, die ganz selbstverständlich sind? Es braucht eben nicht nur Ausnahmezustände, in denen Trost berechtigt wäre, sondern Trost kann gerade auch bei viel banaleren Begebenheiten eingefordert werden. Also gerade Anatol wäre doch eine Figur, die jetzt getröstet werden könnte.

Ja, klar, man muss aber immer schauen, wer gerade erzählt. Bei Anatol könnten wir ja sagen, er tröstet sich, indem er seine Geschichte so erzählen kann oder sie sich so erzählen lassen kann. Das wäre also eine Form von Trost, ja, vielleicht von Ermächtigung.

In einem Text von Dir über Bogota, «Vor dem Anfang», heisst es einmal: «Immer sehe ich alles durch Fenster.» Kommt in deinen Texten vermehrt ein Leiden daran zum Ausdruck, dass alles nur immer vermittelt erlebt werden kann?

Ja, das ist wichtig. Es hat mit dem Bewusstsein zu tun, dass es immer Blicke gibt auf etwas und Blicke zurück. Und Blicke – wie wir auf etwas schauen – sind schon in den Redewendungen enthalten. Im Bus merkt man das, weil man immer merkt, dass Dinge an einem vorbeiziehen, sich spiegeln und so weiter. Dort ist es klar. Die Redewendungen oder die Art, wie wir sprechen, sind aber auch immer schon eine Art Fenster, man weiss es aber die meiste Zeit nicht, dass man die Dinge in einer durch Sprache vorgegebenen Perspektive sieht.

Da kommen bei dir auch die Tiere ins Spiel, oder?

Ja, die Tiere. Ich stelle mir immer Tiere vor, die uns anschauen, auch wenn es sie vielleicht gar nicht so interessiert, was wir so tun. Aber ich stells mir so vor. In diesem Buch kommen sie fast zu wenig vor, ich vermisse sie etwas. Sie sollten mehr vorkommen. Tiere sind auch eine von diesen Perspektivenmöglichkeiten, die einem gewisse Verhältnisse klarer machen. Also etwa die Kuh am Anfang, die selber flieht und jemanden anderen dabei umrennt. Wo irgendwie erst über das Schicksal der Frau, die umgerannt wird, klar wird, dass auch die Kuh ausnahmsweise ein eigenes Schicksal gehabt hat, indem sie von Polizisten erschossen wird, während dann genau nicht mehr klar ist, ob die Frau, die überlebt, dann ihrerseits wirklich eines hat.

Tiere sind eben wichtig, weil sie uns immer von aussen sehen. Sie beobachten uns und verstehen uns wahrscheinlich nicht, also man denkt zuerst, es ist ja normal für sie, dass sie uns nicht verstehen, weil sie Tiere sind. Dabei ist es ja gerade völlig naheliegend, dass man uns nicht versteht, dass auch wir uns nicht verstehen, sobald wir darüber nachdenken. Sie haben diesen Schritt des Nichtverstehens einfach schon gemacht. Und das ist es, was wir von ihnen lernen müssten. Eigentlich finde ich auch Tiere in Gruppen wichtig, weil sie auch Gesellschaften sind. Ich möchte zum Beispiel über die Schwäne schreiben in Zürich, die sich immer kratzen und über Füchse oder halt über all die Tiere, die alle so herumlaufen. Die haben doch so einen anderen Umgang mit den Orten. Die Schwäne zum Beispiel sehen immer nur unsere Beine und sind immer da. Oder irgendwelche Rattenvölker, die Parallelgesellschaften sind oder von denen wir eine Parallelgesellschaft sind, wo alles anders funktioniert. Die Tiere zeigen uns, wie künstlich unsere Gesellschaft ist. Also ihre ja vielleicht auch, aber sie helfen uns, das zu sehen. Vor allem zu sehen, dass alles eben auch anders sein könnte.

Judith Keller: Die Fragwürdigen. 145 Seiten. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2017. 23 CHF.

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