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Die Unterstadt, ihre Legenden und Leichen

Olivier Beetschen legt mit «L'Oracle des Loups» den zweiten Band seiner Trilogie rund um den Fribourger Kommissar René Šulic vor.
Sehen Sie ihn? Am Fusse des Molassehangs, am Ufer, bevor die Saane erneut eine Schlaufe macht. Nein? Ich muss darauf bestehen: Am Hang, eine Art «aufgeschlitzter Igel», ein menschlicher Kopf, dort. «Mit dem Gesicht nach unten liegend, auf einem Teppich aus klebrigen Locken, seinen eigenen Haaren.» Sehen Sie ihn jetzt?
Kommissar Šulic ist vor den Blaulichtern und der dazugehörenden Hektik am Tatort, da er selbst in der mittelalterlichen Unterstadt lebt. Aufgrund seiner ruppigen Methoden wurde er kurz zuvor von der Betäubungsmittelbrigade entlassen und arbeitet nun bei der Freiburger Kriminalpolizei. Die blutige Masslosigkeit der Szene setzt ihm zu; wie wir ahnt er, dass es sich hier um einen aussergewöhnlichen Fall handelt. Passend zu seiner Statur, die so kolossal erscheint, als wäre sie aus Stein gemeisselt.
In Oracle des Loups, dem zweiten Band einer Trilogie, den man auch unabhängig von dieser lesen kann, starten die Ermittlungen ohne Verzug. Am Tag vor dem Auffinden des enthaupteten Körpers hatte eine Brandbombe die Wohnung der Geografiedoktorandin Edwige Kählin zerstört. Die gesamte Sicherheitspolizei ist beunruhigt, denn der komplexe Mechanismus der Bombe deutet auf etwas sehr Unerfreuliches hin. Er erinnert an das Vorgehen des Albinos, eines Dealers, der nach einer zehnjährigen Haftstrafe aus der Schweiz ausgeschafft worden war und über dessen Rückkehr im Drogenmilieu gemunkelt wird. Als dann rauskommt, dass es sich bei der enthaupteten Leiche um Flamur Kasami, Edwiges Lebensgefährten, der früher in die Geschäfte des Albinos verwickelt war, handelt, wird klar: Es gibt einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen.
Schon im Prolog wird der Leser gewarnt, dass sich der Fall auf einem unübersichtlicheren Feld abspielt, als es zunächst scheint/scheinen mag. Im Schatten der Haupthandlung wird eine zweite Geschichte erzählt, und jede Spielfigur, die von der Polizei verrückt wird, wird geschlagen – durch Spielzüge, die vielleicht bereits einige Jahrhunderte zuvor von geheimnisvollen Kräften ausgeführt wurden. Diese Kräfte scheinen sich um einen mysteriösen Text zu konzentrieren, den Edwige mitverfasst hatte: La Fille du temps. Dieser erzählt eine verworrene, blutige Geschichte, die sich um Aloys und Johan Denervaud dreht, zwei Freiburger Helden bei der Schlacht bei Murten (1476), die von ihrer Stadt verstossen wurden, nachdem sie verraten und ermordet worden waren.
Šulic hat die Aufgabe, Edwiges Festplatte, die von der Explosion verschont geblieben ist, zu durchsuchen. So entdeckt der Leser gemeinsam mit dem Kommissar die mittelalterliche Legende, die sich parallel zu den rasant fortschreitenden Ermittlungen entwickelt. Im Laufe der Wendungen, die sowohl die Ermittlungen als auch die Geschichte nehmen, kommen verstörende Analogien zum Vorschein, bei denen die Protagonisten des einen Erzählstrangs ihr Pendant im anderen wiederfinden. Doch es gibt viele Strukturen, die die Verteilung der Rollen und der Erben festmachen könnten — auf welches Szenario soll man sich nun konzentrieren? Wo befindet sich das neuralgische Zentrum, in dem die beiden Erzählungen ineinanderlaufen? Geht es um Treue, um einen Weg der Erlösung, um Rache? Oder steht doch die Figur der Frau im Mittelpunkt, die der Fille du temps ihren Namen gibt und verschiedene Welten zusammenzuschweissen scheint?
Etwas in der nebligen Unterstadt von Freiburg ist zerbrochen und durch diesen Ausbruch archaischer und unterdrückter Gewalt könnten sich Knoten im linearen Ablauf der Zeit gebildet haben, sodass es einen nicht erstaunen sollte, wenn plötzlich die Vergangenheit wieder zum Vorschein kommt. Eines ist jedoch sicher: Die Ermittlungen können nicht zu Ende geführt werden, bis klar ist, aus welchem Raum-Zeit-Kontinuum diese Gewalt kommt. Ist sie das Resultat vom Zusammenspiel mehrerer Geschichten? Oder ist sie lediglich die Auswirkung einer einzigen, jahrhundertealten Geschichte? Šulic scheint am besten geeignet, um die Interpretations- und Hermeneutikarbeit zu leisten, die für die Ermittlung benötigt wird. Um etwas Abstand zu seinen Fällen zu gewinnen, hat der Kommissar die Angewohnheit, sich mit seinem Lieblingsautor, seinem Bruder, zurückzuziehen, der kein anderer ist als der ungestüme, zerstörende und mittelalterliche François Villon. Der Zusammenstoss von Legende und Plot ist zweifelsohne das, was das Buch so spannend macht. Man kann nur staunen vor dem Einfallsreichtum, den Olivier Beetschen an den Tag legt, indem er diese Kollision zum neuralgischen Zentrum seines Romans macht. Es gelingt ihm jedoch nicht, alle Trivialitäten zu umgehen, die bei solch einer architektonischen Glanzleistung drohen; es sind gleichzeitig die dem Kriminalroman als Genre inhärenten Risiken. Das narrative Korsett erstickt die Sprache und hindert sie daran, sich zu entfalten. Es ist nichts da, das die Aufmerksamkeit des Lesers, der zu schnell eine Seite nach der anderen «verschlingt», auf sich ziehen könnte. Die zahlreichen, kurzen Kapitel, die die Unterteilung der Erzählung erzwingen, tragen dazu bei, genauso wie das Zurückgreifen auf monotone Sätze, die einfach aneinandergereiht werden. Obschon die Sprache zu sehr der Erzählung unterworfen ist, bleibt sie elegant. Diese Eleganz ist jedoch steif und es fehlt ihr an Originalität. Es ist vielleicht nicht ein Zufall, dass der packendste Textteil der ist, der die Schlacht bei Murten erzählt. Man könnte meinen, der Autor brauche die Legende, um hinter der barocken Machart seines Buches stehen zu können.
Das fantastisch angehauchte Oracle des Loups, in dem sich eine spannende und komplexe Geschichte entwickelt, bleibt ein guter Kriminalroman. Der originelle Raum, den er beschreibt, ist durchzogen von einer sehr gut gemeisterten Spannung, von zahlreichen und heftigen Wendungen. Ein paar malerische Freiburger Besonderheiten, das Belved, der Hafen, die Maigrauge und die berühmte Geschichte vom Lindenbaum fügen sich geschickt in das Gesamtbild ein. Beetschens Roman wird somit nicht nur Krimiliebhaber zufriedenstellen, sondern ebenfalls die, die es nicht unbedingt sind — darauf würde man seinen Kopf verwetten, oder ihn eben abhacken lassen.
Die Rezension erschien in französischer Sprache auf unserer Partnerseite L’Année du Livre.
Übersetzung: Catherine Jost.
Olivier Beetschen: L’oracle des loups. 304 Seiten. Lausanne: L’Âge d’homme 2019, ca. 32 Franken.