KW51

Einstehen für den Einzelnen

Hürlimann

Thomas Hürlimanns «Abendspaziergang mit dem Kater» scheint auf den ersten Blick eine hochstehende Anthologie bereits veröffentlichter Texte zu sein - und wartet doch mit einer bewegenden Enthüllung auf.

Von Hans-Rudolf Schärer
20. Dezember 2020

Wie man es von einer Anthologie erwartet, ist auch Abendspaziergang mit dem Kater zunächst einmal ein Spiegelbild der thematischen Vielfalt von Thomas Hürlimanns Schreiben. Das Buch lädt ein zum Flanieren quer durch sein Werk: 24 meist zum zweiten Mal abgedruckte Texte aus vierzig Jahren sind hier versammelt zu den Themen «Wege» (zum Schreiben), «Gottfried Keller», «Schweiz», «Krankheit», «Höheres» (im Sinn der Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Fragen), «Herkunft», und «Der Berg» (gemeint ist die Rigi). Stationen auf diesem Spaziergang sind autobiographische, fiktionale und essayistische Texte: Sie reichen von der Krankengeschichte über die Familiengeschichte, die Schelmengeschichte und die Kriminalgeschichte bis zu philosophischen und staatspolitischen Reflexionen.

Zur Person

Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug, Schweiz, geboren. Er besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln und studierte in Zürich und an der FU Berlin Philosophie. Neben zahlreichen Theaterstücken schrieb er die Romane Heimkehr, Vierzig Rosen und Der große Kater, die Novellen Fräulein Stark und Das Gartenhaus sowie den Erzählband Die Tessinerin. Für sein dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Joseph-Breitbach-, den Thomas-Mann- sowie den Hugo-Ball-Preis. 2019 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Hürlimann ist korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste, Berlin. Seine Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. Nach vielen Jahren in Berlin lebt er wieder in seiner Heimat.Foto: © Jannis Keil

Dieser Spaziergang ist ein Abendspaziergang: Hürlimann wird im Dezember dieses Jahres 70 Jahre alt. So sind dem Blick zurück, aber auch der Beschäftigung mit dem Altern und dem Sterben wesentliche Beiträge gewidmet: Etwa die Novelle «Dämmerschoppen» – eine grossartige literarische Phantasie darüber, wie Gottfried Keller den Feierlichkeiten zu seinem 70. Geburtstag inkognito auf den Seelisberg zu entfliehen versuchte; Hürlimanns teilweise groteske und doch berührende Odyssee als schwerkranker Krebspatient durch die vielfältige Spitallandschaft der Schweiz; ein Familienalbum (mit Fotos) und der Bericht über die Spurensuche nach seinen Vorfahren mütterlicherseits in Galizien.

Vom Wesen der Katze

Miteinander verbunden sind die einzelnen thematischen Blöcke durch Einschübe, in denen Hürlimann von einem ihm zugelaufenen Kater erzählt, der ihm beim Schreiben Gesellschaft leistet und ihn auf seinen Abendspaziergängen begleitet. Diese Zwischentexte zeigen, wie Hürlimann diesem Kater immer mehr Zuneigung entgegenbringt und am Schluss – selber «Katerpersönlichkeit» geworden – in der Phantasie geradezu mit ihm verschmilzt. Das ist nicht neu in Hürlimanns Werk. Katzen spielen darin verschiedenen Orts eine ganz zentrale Rolle – angefangen in den frühen Erzählungen über die Romane Fräulein Stark, Vierzig Rosen und Der grosse Kater bis zur 2018 erschienenen Heimkehr. Warum ist das so?

In einem der Zwischentexte erklärt Hürlimann, das Wesen der Katze sei zwiespältig und widersprüchlich – ein schmusiges Raubtier sei sie, das sich niemals habe domestizieren lassen und dadurch «prädestiniert» sei, «Literatur zu werden». Katzen sind Einzelgänger und stehen als solche für das Existenzrecht des Einzelnen. Sie entsprechen dem poetologischen Credo von Hürlimann, das auch den hier versammelten Texten in vielfältiger Weise zugrunde liegt: «Die Literatur erzählt anhand eines Einzelschicksals, was alle betrifft. Dies belegen Abertausende von Titeln, die aus Eigennamen bestehen: Angefangen von der Odyssee des Odysseus über den Grünen Heinrich, Madame Bovary, Anna Karenina bis Lolita. Der Plural findet in der Literatur nicht statt.» Aber auch in staatspolitischer Hinsicht erweist sich Hürlimanns Werk als konsequentes Plädoyer für den Einzelnen, wenn er schreibt, die Demokratie werde zwar gemeinhin als Herrschaft der Mehrheit verstanden, habe aber ihren Ursprung im Einzelnen, auf ihn komme es an. – Kann es sein, dass es dieses Einstehen Hürlimanns für den Einzelnen und den Einzelgänger ist, das gelegentlich als ein genereller politischer Konservativismus missverstanden wird?

Ein bewegender Nachruf

Das eigentliche Ereignis dieser Textsammlung ist indes der Nachruf, den Thomas Hürlimann 1980 auf seinen mit 21 Jahren verstorbenen jüngeren Bruder Matthias hielt. Er ist hier zum ersten Mal abgedruckt. Man kann diesen Nachruf – und insbesondere die darin enthaltenen Ausschnitte aus dem Tagebuch des Bruders – nicht ohne Bewegung, ja Erschütterung lesen. Hürlimann schreibt dazu aus der Distanz von vierzig Jahren, der ihm liebste Mensch sei sein Bruder gewesen und dessen Sterben habe ihn verwandelt. Tatsächlich wurde der Tod des Bruders sozusagen zur «Urszene» von Hürlimanns Werk. Die Erzählungen Die Tessinerin und Das Gartenhaus, aber auch der Roman Der grosse Kater sind davon zutiefst geprägt. Diese Urszene ist aber auch die Grundlage für das Ethos von Hürlimanns Werk: Es sei der Tod des Bruders, schreibt Hürlimann, der ihn dazu verpflichte, «die Wahrheit zu erkennen und die Täuschung zu entlarven» – ein Anspruch, den die 24 Texte dieser Geburtstags-Anthologie eindrücklich erfüllen.

Thomas Hürlimann: Abendspaziergang mit dem Kater. 304 Seiten. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2020, ca. 34 Franken.

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