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Erinnerungen aus der Familienchronik

Der renommierte Dokumentarfilmer Eric Bergkraut widmet seinen ersten Roman der Familie. Entstanden ist ein präziser, jedoch allzu kühler Bericht von Zusammenhalt und Zerfall.
Im Mittelpunkt dieses Familienromans steht zunächst das Schicksal des jüngsten Sohnes Felix, der sich als Internierter in der Schweiz der 1940er-Jahre in Louise verliebt. Nach Kriegsende müssen beide zurück nach Paris, denn die Schweiz weist Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer aus. Mit der Heirat wird Louise staatenlos und teilt damit das prekäre Dasein ihres Ehemannes. In Paris lebt auch Felix’ jüdische Familie. Allesamt sind sie schwer traumatisiert von Verfolgung und Flucht. Am Schweigen darüber zerbricht ihre Verbundenheit. Felix’ Bruder Theo nimmt sich in der Nachkriegszeit das Leben.
Unter diesen Vorzeichen gründen Louise und Felix eine eigene Familie. In ihrem Garten in St. Maur schaffen sie sich ein eigenes Reich, fast schon ein Paradies. Später in der Schweiz verliert man sich. Felix’ aufgeweckter Geist fällt dem strikten Regime des Schwagers, in dessen Firma er Anstellung findet, zum Opfer. Louise langweilt sich und wird manisch. Sie stürzt sich in eine Affäre mit dem Nachbarn. Zwischen glücklichen Momenten im selbstgezimmerten Tessiner Rustico entfremdet sich die Familie, zu gross sind die Differenzen. Ihre Zwilinge zerstreiten sich auf immer, die Schwester stirbt einsam an Krebs, der Bruder schafft sich ein steriles Zuhause gemeinsam mit zwei Schlangen.
Diese Erzählung ist dicht an Eric Bergkrauts eigene Familiengeschichte angelehnt. Der jüngste Sohn von Felix und Louise, alias Egon und Selma Bergkraut Bodmer, hat in seinem ersten Roman Paradies möcht ich nicht Erinnerungen, Erzähltes und Erfundenes zusammengesetzt. Die Geschichten entlockt er seiner Mutter während dem unermüdlichen Halma-Spielen im Pflegeheim. Die Erzählung umspannt drei Generationen. Dementsprechend werden die Leser*innen auf Trab gehalten und das so sehr, dass man stellenweise den Anschluss verliert. Die Geschichten überlagern sich und sind dicht gestaltet. In einem mal rasenden, mal gemächlichen Tempo berichtet der Autor von den Lebensläufen einer Vielzahl von Figuren. Durch diese sehr variantenreiche Erzählweise verliert man häufig die Orientierung. Die Geschichten wirken zunehmend inkohärent und ihr Inhalt tritt gegenüber dem Erzählakt in den Hintergrund.
Das Thema der Familie bearbeitet Eric Bergkraut, der bisher vor allem als Dokumentarfilmer bekannt ist, gerade auch in einem anderen Rahmen. Letzten Sommer feiert sein erster Spielfilm WIR ELTERN in Locarno Premiere. Darin zeigt er gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Ruth Schweikert Szenen des eigenen Familienlebens, die am Originalschauplatz gedreht wurden. Das dokumentarisch geschulte Auge schlägt sich in Bergkrauts Roman vor allem stilistisch nieder. Selten geht er über die szenische Beschreibung hinaus, so dass die Figuren nur reduziert gezeichnet werden. Sie sind ganz der Sachlichkeit des Erzählers ausgeliefert, wodurch ihre Handlungen teilweise schwer nachvollziehbar sind.
Die Geschichten sind aber dringlich. Das Erinnern an den Nationalsozialismus und die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung sind heute dringlicher denn je. In Paradies möcht ich nicht wählt der Autor ein sehr unterkühltes Erzählen für dieses Erinnern – letztlich jedoch zu nüchtern, um dem Erzählten gerecht zu werden. Die Erfahrungsberichte der Mutter sind es da am ehesten, die die Geschichten lebendig machen. Doch auch ihre Erlebnisse wirken in der Nacherzählung verzerrt. So berichtet ein distanzierter Beobachter von den sexuellen Misshandlungen, die Louise in ihrer Kindheit und Jugend erfuhr. Gerade an dieser Stelle entscheidet sich der Autor dafür, die Mutter nicht zu Wort kommen zu lassen. Das wirkt willkürlich und überheblich. Bergkraut forciert hier seine distanzierte Erzählweise ohne Rücksicht auf Verluste, denn die beklemmenden Ereignisse vermögen so nicht zu berühren.
Eric Bergkraut: Paradies möcht ich nicht. Roman einer Familie. 200 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2019, ca. 32 Franken.