KW28
Es ist gut, zitternd zurückzubleiben

Eine seltene Koinzidenz, eine Staffelübergabe: Am siebten Zürcher Openair Literatur Festival sassen sich unversehens zwei BüchnerpreisträgerInnen gegenüber. Der gerade am Vortag gekürte Lukas Bärfuss sprach mit Terézia Mora - der Erkorenen des Vorjahres – darüber, was von der Literatur des 21. Jahrhunderts noch zu erwarten ist.
«Wir wussten es natürlich, dass er den Preis gewinnt – den Preis», eröffnet Corina Freudiger den Abend – und freilich ist es nicht nur irgendein Preis. Vor Lukas Bärfuss haben nur drei Schweizer – Max Frisch (1958), Friedrich Dürrenmatt (1986) und Adolf Muschg (1994) – den Georg-Büchner-Preis erhalten. Dass Bärfuss für diesen wolkenlosen Abend im idyllischen Alten Botanischen Garten Zürich mit Terézia Mora vorahnungslos seine unmittelbare Vorgängerin zum Gespräch geladen hat, weckt den Schicksalsglauben: Sitzt die Antwort auf die Frage, was wir von der Literatur in unserem Jahrhundert noch erwarten dürfen, bereits vor uns?
Von Carver zu Bukowski
Zunächst aber geht es einmal um Traditionen: Sowohl Mora wie Bärfuss berufen sich auf Raymond Carver, dessen Erzählungen – so Mora – «wir es alle zu verdanken haben, dass wir schreiben durften». Das Reduktive, das «Weglassen» in Carvers Prosa legitimierte nach Moras Ansicht das neue Erzählen der 90er. Irgendwann sei er des WASP-Stils allerdings überdrüssig geworden, wirft Bärfuss ein, er habe sich nach «Opulenz» gesehnt und sei dabei auf John Cheever gestossen – und berichtet enthusiastisch von Cheevers Short Story The Swimmer. Mora kennt Cheever nicht – dafür treffen sich beide wieder – enthusiastisch – bei Bukowski. Vielleicht fasst Mora in ihrer luziden Charakterisierung von Bukowskis Schreiben auch das Selbstverständnis ihres Gegenübers ein: «Die Eskalation» sei es, die das Werk des Autors von Ham on Rye so besonders mache. «Ein guter Text hat einen Skandal», es könne «auch ein leiser Skandal sein». Und damit kommt sie Bärfuss zweifellos sehr nahe.
Erwarten darf man sowohl von Mora als auch von Bärfuss zumindest das Ausbrechen aus klassischen Erzählmustern und eine immer wieder überraschende Sprachgebung. «Du bist eine perfide Folterkünstlerin», meint Lukas Bärfuss etwa zu einem Auszug aus Moras Erzählband Die Liebe unter Aliens. Die Sätze kommen scheinbar leicht — «Subjekt – Prädikat — Objekt», wie Mora selbst ihren Schreibstil beschreibt —; scharfsinnig und herzerwärmend erzählt Moras Text von zwei verliebten Jugendlichen, die sich in der Küche bekiffen und einander vor Lachen und Grausen nicht mehr anschauen können, weil sie beide Aliens geworden sind. Und doch sind da diese Sätze, die einen treffen wie Faustschläge in den Magen. «Es ist gut, zitternd zurückzubleiben» – so Moras Bilanz in der Frage, was Literatur auslösen soll.
Die letzte Kugel
Auch Bärfuss ist nicht einer, der in seiner Literatur nach Erklärung und Erlösung strebt. «Es ist gut, unerlöst zu sein», gesteht er nach seiner Lesung aus einem noch unveröffentlichten Text – eines parabolischen Vorläufers zu Bärfuss’ letztem Roman Hagard. Gefragt wird in diesem Text nach dem, was vom Leben noch zu erwarten sei, wenn doch selbst unsere künstlichen Kinnladen unsere eigentliche Existenz überdauern – und von dort spinnt sich die Erzählung von Bild zu Bild fort, um am Ende bei der Entscheidung anzulangen, wem man mit der einzigen Kugel im Lauf das Ende bereiten solle: «dem Zorn, der Verwirrung, dem Schmerz oder dem Begehren.» Keine Allegorese sei das, sondern vielmehr dunkle Selbsterkundung: «Ich schreibe immer über etwas, was ich nicht verstehe. Erzählen bedeutet für mich, das Bewusstsein zu erforschen.»
Immer wieder zieht es Bärfuss dabei auch zur Politik, die er in seinen Theaterstücken, Essays und Romanen zum Thema macht. Insbesondere die Politik seines Heimatlandes beobachtet Bärfuss aufmerksam, entlarvt und kritisiert zuweilen scharf, auch in den Medien. Zwischen der Literatur und der Politik unserer Zeit sieht er deutliche Parallelen; bedienen sich doch beide zunehmend dramaturgischer Effekte, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen.
Kein Recht auf Resignation
«Wir Menschen des 21. Jahrhunderts sind der Propaganda hilflos ausgeliefert, man schaue in die US-Politik. Da ist ein Mann, von dem wir nie wissen, was er als Nächstes tun wird.» Gerade ihre Unberechenbarkeit fessle uns aber an diese Gestalt, denn sie zwingt uns damit zur ständigen Vergewisserung, dass wir noch nicht bedroht seien – was sich in jedem Moment ändern könne. Donald Trump als Live-Performance in dramaturgischer Perfektion? Dennoch, so Bärfuss, dürfe man sich nicht dem Pessimismus hingeben. «Wir haben kein Recht auf Resignation.» Auch Terézia Mora weiss aus ihrem Heimatland Anekdoten von unheilvollen Begegnungen zwischen Politik und Kultur zu berichten. «Ich fühle mich immer dann unwohl, wenn die Forderung nach neuen Heldenfiguren laut wird. Dann passiert garantiert etwas Schlimmes.» Dabei ist sie etwas weniger zuversichtlich als Bärfuss: «Wir reden uns den Mund fusselig und die Leute wählen immer mehr rechts.»
Was also ist zu erwarten von der Literatur des 21. Jahrhunderts? Mit den Stimmen von Terézia Mora und Lukas Bärfuss auf jeden Fall: Dass Unerwartetes geschieht, dass wir unerlöst und zitternd zurückbleiben – und dass das gut ist.