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Harte Schnitte

Bärfuss Mora

Dass sie über ihre schwere Krebserkrankung schreiben würde, wusste Ruth Schweikert am Tag ihrer Diagnose. Drei Jahre später erscheint das Ergebnis als Buch. «Tage wie Hunde» unternimmt keine Beschreibung eines Kampfes, sondern steigt selbst in den Ring.

Von Christoph Steier

Dass es dem Krebs egal ist, wer wir sind, plakatiert die Schweizer Krebsliga nun schon seit einigen Jahren. Modell stehen jeweils fröhlich geforderte Leute jeden Alters, mitten im Leben, voll dabei. Dass soll die Pendlerströme zur Vorsorge ermuntern, dem Krebs aber auch das latente Stigma nehmen, in und mit ihm käme dann doch immer etwas Verdrängtes ans Licht, strebe Versäumtes nach Ausdruck.

Was die Kampagne vermittelt, hat die vielfach ausgezeichnete Schweizer Schriftstellerin Ruth Schweikert nun am eigenen Leib erfahren müssen. Zwischen Grossfamilie, Autorinnenkarriere, Dozentinnentätigkeit, kritischer Zeitgenossenschaft, Reisefreudigkeit und riesigem Freundinnen- und Freundeskreis steht sie, der Phrase leichtfüssig auf dem Trottinett enteilend, mitten im Leben. Was den Krebs nicht kümmert, als er im Februar 2016 mit voller Wucht in ihr Leben tritt. Brustkrebs der aggressivsten Art, sofortiges Handeln erforderlich.

Raumforderungen

Diesem Handeln, den langwierigen, aufwändigen, kräftezehrenden Prozeduren ist jedoch nur ein kleiner Teil von Ruth Schweikerts neuem Buch gewidmet. Weder die Tristesse der Wartezimmer noch die ausführliche Schilderung der eigenen leiblichen Erfahrung erhalten von der Autorin den Raum, den sie vermutlich in den vergangenen Jahre eingenommen haben. Im Zentrum stehen stattdessen die von der Schockdiagnose freigesetzten Erinnerungen und Reflexionen, aber auch die noch zu verfolgenden Projekte und Selbstvergewisserungen. Der Raumforderung des kranken Gewebes, dem «Gedankengefängnis» setzt der Text damit schon materialiter die eigene Gestaltungshoheit entgegen. Die sich nicht zuletzt in der beredten Diskretion des Textes äussert und in dem zunehmend herausgespielten autofiktionalen Spielraum, der jedem Beichtstuhlvoyeurismus eine selbstbewusste Autorschaft entgegensetzt.

Zur Autorin

Ruth Schweikert, geboren 1964 in Lörrach, lebt heute in Zürich. Nach einer Theaterausbildung in Deutschland folgten vielseitige publizistische Tätigkeiten, unter anderem als Kolumnistin, Drehbuchautorin, Prosa- und Theaterschrifstellerin. Schweikert engagiert sich für feministische und kulturpolitische Anliegen und kandidierte 2015 auf der Liste «Kunst + Politik» für den Nationalrat. Seit 2015 ist sie Dozentin am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Als Schriftstellerin landete sie 1994 mit ihrem ersten Erzählband «Erdnüsse. Totschlagen» bereits einen beachtlichen Erfolg. Für ihren Roman «Wie wir älter werden» (2015) wurde sie mit dem Schweizer und Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet.

Doppelte Staatsbürgerschaft

Zuvorderst äussert sich diese Gestaltungshoheit jedoch im scheinbaren Verzicht auf die geschlossene Form eines gerade heruntererzählten Romans. SMS und Mails, orthografisch und stilistisch nicht geglättet, furchen die Textoberfläche. Viel Sorge und Empathie ist dort zu lesen, aber auch viele Ich-Sätze. Was die von so vielen Geschätzte, Geliebte und Ausgezeichnete niemandem verübelt, weiss sie doch mit Susan Sontag um die doppelte Staatsbürgerschaft eines jeden Menschen. Eine für das Reich der Gesunden, eine für das Reich der Kranken. Lounges und Transitzonen dazwischen eher Mangelware, harte Schnitte. Auch weiss sie von sich selbst, dass uns keine Krankheit, kein Tod nur um des anderen willen betrifft, sich stattdessen immer die bange Frage nach den eigenen Geschicken einflicht. Wozu auch Ruth Schweikerts Buch einlädt, das bei aller Bedrängnis genug Raum schaffen will für das je eigene Memento Mori ihrer Leserinnen und Leser.

Todesarten

Diesen Hallraum verstärken auch die zunehmend den Text bestimmenden Lebens- und Todeserzählungen naher Verwandter und flüchtiger Bekannter. In höchster Konzentration und Empathie formulierte Nachrufe auf die eigenen Eltern auf der einen Seite, teils schon angelegt in den Romanen zuvor und hier zur Gültigkeit ausformuliert. Auf der anderen Seite fassungslos verzeichnet Gebliebenes: Verluste von Kindern, Krebsbücher von Kolleginnen und Kollegen, sterbende Mütter im Film, das alltägliche Elend der Welt, die bange Frage nach der Vergleichbarkeit persönlichen Leidens. Und die kleine, aber bittere schriftstellerische Freiheit, den Krebs der Zehnerjahre aus der Zukunft des 22. Jahrhunderts zu betrachten: Als blosses Relikt im Museum, dem unvorstellbarer Weise zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch Leute zum Opfer fallen mussten. Versäumnisse und Beklagenswertes, so lehren aber auch diese Episoden, liegen für die Erzählerin dieses Krebsbuches höchstens in der Zukunft, nicht in einer verpassten Vergangenheit, für die es noch Abbitte zu leisten gälte. Krankheit nicht als kleinliche Quittung, höchstens als Anlass einer dankbaren Zwischenbilanz, gracias a la vida.

Nicht in Stein

Kontrapunktisch dagegen gesetzt die Geburten, die Projekte, die Reisen, die Freunde. Angezählt viele und vieles davon, dennoch kann die Devise nur lauten: weiter im Text. Prosa, pro vorsa, nach vorn. Bewegung lautet denn auch das Stichwort. Nicht irgendwo hin, einfach weg. Sondern weiter im bisherigen Lebenstext, weiterhin getragen von einer «Aufmerksamkeit für das Fragile, Beiläufige, Nebensächliche; für das unerwartete Glück». Dieser Aufmerksamkeit dürfte nicht entgangen sein, dass in diesem Buch kaum ein Satz für die Ewigkeit zu finden ist. Wohl aber viele für das Leben, das erst noch zu leben ist. Möge also, so gibt dieses still aufgewühlte Buch zu hoffen, die Zeit der in Stein zu meisselnden Sätze noch eine Weile auf sich warten lassen. Eine gute Weile.

Ruth Schweikert: Tage wie Hunde. 208 Seiten. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2019, ca. 30 Franken.

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