KW30

«Jeder Ausbruch ist ein Einbruch.»

Lukas Bärfuss

Martina Clavadetschers Triptychon «Knochenlieder» ist zweifellos einer der rätselhaftesten, zugleich aber auch einer der faszinierendsten Schweizer Texte dieses Jahres. Wir haben die Autorin in ihrem Heimatort Brunnen (SZ) besucht. Ein Gespräch zwischen Tieren und Maschinen.

Von Redaktion Buchjahr
24. Juli 2017

Martina, die Ungeheuerlichkeit, die die «Knochenlieder» in unseren Augen zu einem wirklich gelungenen Stück Literatur werden lässt, besteht darin, dass dieses Buch die unterschiedlichsten Erzähltraditionen ineinander überblendet – und man trotzdem immer noch den Eindruck hat, das sei eine ganz organisch gewachsene Form der Dichtung. Wir wollen das Werk aber nicht einfach bewundernd so stehen lassen, sondern mehr darüber erfahren. Greifen wir doch am Anfang einmal den offensichtlichsten Bezugspunkt Deines Erzählens auf: das Märchen.

Also, erst einmal ganz basal: Es handelt sich um Überschreibungen von drei Grimm-Märchen. Von «Dornröschen», von «Rumpelstilzchen» und dann noch von einem relativ unbekannten Märchen, «Der singende Knochen».

Da ist dann der Konnex zu Deinem Titel…

Genau, bei Grimm schnitzt ein Schäfer aus den Knochen eines Mordopfers eine Flöte und als er darauf spielt, verrät das Lied den Bruder des Toten als Mörder. Die Wahrheit steckt in den Gebeinen.

Medientheoretisch natürlich hochinteressant; man könnte sich gerade mit Blick auf die futuristischen Elemente Deines Textes fragen, welche Verbindungen zwischen den beiden siliziumbasierten Informationsträgern – dem Knochen und dem Computerchip – bestehen. Aber zurück zu den Märchen.

Entscheidend ist doch: Die archaischen Handlungskonstellationen, die wir im Märchen finden, sind losgelöst von der Zeit. Die sozialen Grundelemente, die Sehnsüchte, die Ängste, die den Menschen umtreiben, halten sich durch. Deswegen ist es mir sehr wichtig gewesen, die Märchen aus ihrem Märchenkontext herauszulösen und sie neu zu verzeitlichen, sie sogar in eine uns noch unbekannte Zukunft zu transportieren. Die Handlungsformen, die wir im Märchen sehen, tragen immer. So etwas unfassbar Böses wie ein Fluch funktioniert auch jetzt noch, durch die schiere Kraft der Worte, egal, ob wir den in einer Aussteigersiedlung des letzten Jahrhunderts, jetzt im Moment oder in vierhundert Jahren aussprechen. Auch solche Elemente wie der Kinderwunsch – das bleibt etwas Fundamentales in einem Menschenleben.

Zur Autorin

Martina Clavadetscher, geb. 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie an der Universität Fribourg. Es folgten ein Stipendium-Aufenthalt in Berlin und Uraufführungen ihrer Theaterstücke in der Schweiz und Deutschland. Im März 2014 erschien ihr Prosadebüt «Sammler». Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Stück «Umständliche Rettung» gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war damit im selben Jahr zum Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für ihren zweiten Roman «Knochenlieder», der im Februar 2017 bei der edition bücherlese erschienen ist, wurde ihr der Literaturpreis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung zugesprochen.

Wie hängt diese Ausserzeitlichkeit mit der Form zusammen, die Du Deinem Erzählen gibst? In gewisser Weise ist das ja ein lyrisches Erzählen.

Die Lyrisierung war nicht Teil eines «Plans», sondern hat sich eher aus meinem Gefühl beim Schreiben ergeben. Ich schreibe ja von Hand und aus der physischen Bewegung heraus habe ich erkannt, dass die schmalen Zeilen dem Stoff angemessen sind – und aus dieser Körperlichkeit heraus wurde dann auch die Rhythmik immer wichtiger. Aber letzten Endes ist es ein Mischtext, es hat ja auch szenische Elemente, Lieder – irgendwo ist der Text auch eine Liebeserklärung an die Musik, mit der sich in allen drei Teilen eine Erlösungsvorstellung verbindet.

So wird zum Beispiel David Bowies «Life on Mars» in den «Knochenliedern» zum Stichwortgeber von Fluchtgedanken.

Ja, das Sich-aus-etwas-Hinausdenken. Ganz entscheidend ist für den Text auch das Verhältnis von Innen und Aussen. Wer irgendwo aussteigt, muss sich auch wieder für ein Innen entscheiden. Und wer aus der Realität aussteigt, muss sich für das Innen einer Fiktion entscheiden. Jeder Ausbruch ist ein Einbruch. In allen drei Teilen ist es darüberhinaus dann auch essentiell, dass das vermeintlich Böse immer von Innen und gar nicht von Aussen kommt. Aus der Aussteigercommunity, aus dem eigenen Netz, am Ende auch aus den eigenen Erinnerungen, die man mitnimmt.

Das Buch beginnt mit einem Grimm-Zitat, das von der Bestialisierung des Menschen spricht. Und so verwundert es nicht, dass Tiere in den «Knochenliedern» eine enorme Rolle spielen.

In der Tat. Jeder der drei Teile wird nicht nur motivisch durch ein Tier dominiert – Wespe, Fledermaus, Schmetterling –, sondern die Menschen verhalten sich wie Tiere, bauen zum Beispiel Nester. Am extremsten vielleicht im zweiten Teil, der ein ganz nächtlicher Text ist, die Protagonistin hört qua Echolot Dinge lange, bevor sie sie zu Gesicht bekommt, selbst die Liebesszene braucht den Nackenbiss, es geht im Wesentlichen um Jäger und Beute.

Dem Regress des Menschen in seine Natürlichkeit steht nun auf der anderen Seite seine Technikorientierung gegenüber.

Der Text versteht Technik sicherlich als Fortsetzung der Natur, nicht als ihren Gegner. In den «Knochenliedern» treten die beiden Welten, die der Tiere und die der Maschinen, sich in den beiden ersten Teilen scheinbar konfrontativ gegenüber, aber es ist doch ein Kontinuum. Tiere entwickeln ja auch Techniken und Instrumente, um zu ihren Zielen zu kommen.

Ist die Sprache nicht das eigentliche Band, das in den «Knochenliedern» die Welt der Natur und die der Maschinen verbindet? Vom maschinalisierten Schreiben zum lyrischen Laut zurück ist es ja nur ein kleiner Schritt, wie Dein Text ja zeigt. Die Wörter werden durch die automatischen Umbrüche zerlegt…

… und die Silben beginnen zu tropfen. Dadurch wird die Tonalität, der Klang wahnsinnig wichtig. Ich habe beim Redigieren immer wieder auf den Laut geachtet, der laute Vortrag entscheidet darüber, ob der Satz stimmt oder nicht. Die Form stärkt den Inhalt, bestimmte Wörter müssen für sich stehen und brauchen einen ganz eigenen Raum. Und manchmal, etwa beim Traum in «Knochenlied», dem dritten Teil, sieht die Form dann eben aus wie ein Computercode. Es gibt fast keinen Zeilensprung, den ich nicht mit meiner Lektorin diskutiert habe.

Nun sind die «Knochenlieder» ja auch ein ganz prononcierter Zukunftstext. Wie entsteht diese Zukunft?

Ich habe recht viel recherchiert, Zukunftsforschung gelesen – Gesundheitswesen, Sicherheitstechnik etc. Das meiste ist ja gar nicht Zukunft, sondern Gegenwart. Die Tendenz ist doch: Man beginnt mit der Selbstkontrolle – mit Schrittzählern etc. –, weil man das für Freiheit hält, aber letztendlich ist es dann eben doch totale Abhängigkeit.

Hat Deine Zukunftsfiktion also einen präventiven Charakter?

Was mich am meisten beschäftigt zur Zeit ist tatsächlich die Fremdbestimmung durch Technik, also der Moment, in dem die Selbstermächtigung durch Technik in Bevormundung umschlägt. Einen moralischen Anspruch hat meine Zukunft aber nicht.

Der zweite Teil ist zugleich doch eine deutliche wie überraschende Reminiszenz an den Cyberpunk: totalitäre Machtkonstellationen, der Staat als gesichtslose «Corporation», die Hackerin als Antagonistin.

Das mit der Hackerin habe ich mir lange überlegt, da diese Figur eben schon sehr vorbelastet ist, also etwa durch Stieg Larssons Milennium-Trilogie. In das Fahrwasser wollte ich nicht geraten. Tatsächlich kreist der Text überhaupt um den Versuch, sich in die Welt «reinzuhacken», in sie einzubrechen, sie zu manipulieren. Andererseits sind Hacker aber auch diejenigen, die diese Welt in ihrer Kodierung lesen können, also wissen, wie die Zeichen unterhalb der Oberfläche miteinander zusammenhängen.

Bei Deinen Lesungen wirst Du regelmässig von Isa Wiss begleitet – wie stark lebt denn Dein Text von der Performance, insbesondere von der musikalischen Performance?

Die Liveperformance fördert eher eine Aufnahme über die Atmosphäre; liest man das Buch, dann ist es schwerer, dem Text zu entfliehen, da ist er dann grausamer, härter. Ich habe nicht auf die musikalische Performance hingeschrieben, aber mir schien sie dann mit Blick auf die öffentliche Präsentation des Textes wünschenswert, da es in der Tat ein ‹musikalischer› Text ist, Musik eine grosse Rolle spielt. Allerdings muss man auch dem Text selbst vertrauen können.

Wie helvetisch sind die «Knochenlieder»?

Vom Setting her, könnte der erste Teil natürlich in der Südschweiz spielen, die Stadt, um die es geht, ist vermutlich eher Paris…

… und abseits des Settings? Es gibt ja ein auffälliges Bündnis zwischen der Dystopie und der Schweiz als Diskursraum, Christian Krachts «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» ist da ja ein Paradebeispiel…

Ja, der ist natürlich grossartig, wobei mir «Imperium» noch besser gefallen hat. Einfach ein guter Humor. Auch das neue, das mit dem Kino…

…«Die Toten»…

Ja, auch da finde ich diesen unschuldigen, distanzierten Humor, den ganz viele Leute nicht begreifen.

Dein Text teilt diesen Humor durchaus. Was liest Du sonst noch?

Ausser Kracht? Kehlmann habe ich immer gerne gelesen, eine Zeit lang sehr viel von Philip Roth oder auch Paul Auster. Ach: Michail Bulgakow. «Die verfluchten Eier». Das muss man lesen.

Und von den unmittelbaren Kollegen?

Ich nehme das schon wahr, was in der Schweiz geschrieben wird, aber ich komme vor Schreiben kaum zum Lesen. In den letzten anderthalb Jahren habe ich fast keine Belletristik gelesen.

Zum Schluss dann die obligatorische Frage: An was schreibst Du jetzt gerade?

Zwei Sachen fürs Theater, eine noch etwas roher, eine schon recht weit, die kommt dann bald bei Felix Bloch heraus. Aber noch keine spruchreif. Dann habe ich gerade fürs SRF ein Drehbuch für eine Tragikomödie mit dem Titel «Die Einzigen» abgeschlossen, das kann man dann im Dezember sehen. Und jetzt überlege ich, was ich als nächstes mache. Seit zwei, drei Tagen wuchert da etwas. Aber man weiss ja nie, ob man es noch einmal schafft.

Das Gespräch führten Mirja Keller und Philipp Theisohn

Martina Clavadetscher: Knochenlieder. 302 Seiten. Hitzkirch: edition bücherlese 2017. 29 CHF.

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