KW09
Passus Authoris

Dieter Fortes nach längerem Schweigen erschienene Erzählung Als der Himmel noch nicht benannt war nimmt es auf 90 Seiten mit der ganzen Welt auf. Die sich selbst als Produkt einer gigantischen Buchhaltung entpuppt, die auf durchaus überschaubaren Prinzipien beruht. Am Erzählen führt dabei kein noch so entlegener Weg vorbei.
Dass die Schweizer Literatur den grossen Erzähler und Dramatiker Dieter Forte, geboren 1935 in Düsseldorf, auch als einen der ihren verbuchen darf, verdankt sich selbstverständlich der Buchhaltung. Diesem Lebensthema gilt nämlich nicht nur das Interesse von Fortes jüngster Erzählung, sondern bereits das Augenmerk seines ersten Dramas: Vor bald einem halben Jahrhundert machte Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung letztere als geheime, rein ökonomische Triebkraft hinter dem Reformationsgeschehen aus: Am Ende hielten nicht Luther oder Münzer, sondern die Kreditgeber der Fugger die Fäden und Pfründe in der Hand. Das passte zum Geist von 1968, durfte am Düsseldorfer Schauspielhaus aber nicht aufgeführt werden. Erfolg und Gehör fanden Autor und Stück hingegen in Basel, wo Forte Dürrenmatts Nachfolge als Hausautor und sein Drama seinen Triumphzug auf die internationalen Bühnen antrat.
Böte dieses halbe Jahrhundert eines produktiven, teils von unzeitgemässen Grossprojekten geprägte Schriftstellerleben zweifelsohne genug Stoff für Memoiren in epischer Breite, entscheidet sich Forte in diesem Spätwerk sehr bewusst für die kleine, aber umso anspielungsreichere Form. In 24 Denkbildern, gerahmt von einem den Lesefluss fördernden, aber nicht unbedingt notwendigen Gang durch eine prächtige Bibliothek, erzählt Forte die Geschichte der Mensch- als Sprachwerdung.
Welt der Worte
Vom Gilgamesch-Epos bis zur Raumfahrt, von der Höhlenmalerei bis zu Linnés Ordnung, vom ägyptischen Sonnenhymnus bis zu Nietzsches Gipfelstürmen interessiert sich Fortes Erzähler für den zugleich sprachlos und endlos sprechen machenden Kraftakt, «Welt und Worte eins» werden zu lassen: «Die Worte waren die Welt», lautet das Credo seines «lebenslangen Nachdenkens über den Menschen», dem «alles nur eine lange Erzählung ist.» Deren ihm wichtigste Stationen erzählt Forte in teils szenischen, teils allegorisch verrätselten Episoden, die enzyklopädisches Wissen andeuten, aber nie ausspielen. Das lädt zur eigenen Wiederentdeckung der Bibliotheken ein, lässt den alten, halbverklungenen Namen ihren Hall. Die Sprache bleibt lakonisch, aber nie gedrängt. Nicht Pointe, sondern Konzentration ist ihr Ziel. Vom Pathos biblischer Verlustgeschichten hält sich der allen Schriftkulturen gegenüber aufgeschlossene Bibliotheksflaneur ebenso fern wie vom Zynismus popmoderner Relativitätstheorien: Nicht das Sprachwunder als Schwindel zu entlarven, sondern den Wunderschwindel der Sprache erfahrbar zu machen, unternimmt das schmale Buch. Womit selbst so etwas scheinbar Schnödes wie die «Buchhaltung» in ihrem mythischen Anfang (und, wie nicht nur Kafka wusste, auch ihrem mythischen Ende) wieder greifbar werden könnte: «Die Buchhaltung erfand die Lebensform des Menschen bis heute, Recht wurde geschaffen, die Sterne erkundet, Geschichte geschrieben, und es entstanden die grossen Mythen von den Göttern und den Menschen.» Bücher sind die Welt, ohne dass deshalb gleich der Umkehrschluss gelten müsste.
Wortes Werk und Fortes Beitrag
Den Menschen als Spinne – und nicht selten auch Irrläufer – im selbstgesponnenen Netz der Bedeutungen hat die Kulturwissenschaft der letzten Jahrzehnte hinreichend popularisiert. Das Für und Wider, vor allem aber die Diffusionen der Fiktionen, Narrative, Phantasmen, Träume, Projektionen, Mythen, Inszenierungen oder Simulationen scheint wo nicht durchdekliniert, so doch zumindest in eine absehbare Auslegeordnung gebracht. «Dass unter den Bedingungen des Lebens der Irrtum [sein] könnte», bringt zumindest in Nietzsches hinreissender Diktion niemanden mehr um den Schlaf – aber vielleicht auch nicht unbedingt zum Lesen? Dass Forte die grosse Sprachgeschichte des Menschen noch einmal auf seine Weise erzählt, rechtfertigen weniger die insgesamt wohlbekannten Destillate seiner bibliophilen Existenz als Form, Stil und Anlage ihrer Präsentation.
Da ist zum einen die schon gewürdigte Lakonie, mit der Forte einerseits szenisch von den vielen, geografisch und kulturell ganz diversen ersten Fäden des erzählerischen Weltnetzes erzählt und andererseits nur knapp, aber im vollen Vertrauen auf den Fortbestand der Gutenberggalaxis, zur eigenen Nachlese ermuntert. Da ist zum anderen die völlige erzählerische Klarheit über das eigene Projekt, das im historischen Vorbild des Baseler Zeichners und Kupferstechers Merians gespiegelt wird. Dieser sollte einst die wild gewachsene Stadt kartografieren und wurde dem Chaos erst Herr, als er alle Gassen selbst abschritt, eigenmächtig die Proportionen anpasste, die ungewöhnliche Vogelperspektive wählte und situativ mit Bildern ergänzte. Das entsprach weder den Konventionen noch der geometrischen Ordnung, ergab aber laut Forte die bis heute «beste Karte der Stadt». Und dies nicht zuletzt deshalb, weil ihr Urheber es nicht versäumte, dem Blatt die Bemerkung «Passus Authoris» beizufügen, «was so viel bedeutete wie: nach den Schritten des Autors».
In seinen besten Momenten gelingt es Fortes Buch, das seinen Vermächtnischarakter sowohl in der gross angelegten Rückschau als auch in der eingeflochtenen Geschichte einer der Sprache entgleitenden Sterbenden elegant in der Schwebe hält, die Lesenden aus der Lethargie des medialen Überflusses auf gleich zwei bedeutsame Spurensuchen zu schicken. Ob dabei die Neugier überwiegt auf die Schritte, die dieser Autor in den fünf Jahrzehnten seines Schreibens noch getan hat und die zu Erkundung oder Wiederentdeckung einladen, oder ob es doch zunächst der vertiefte Streifzug durch das hier kartografierte Terrain von 5000 Jahren Sprachweltgeschichte sein darf, ist dabei nachrangig – «denn die Geschichten blieben und erzählten von der Spur des Menschen.»
Dieter Forte: Als der Himmel noch nicht benannt war. 96 Seiten. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2019, ca. 24 Franken.