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Prädikat Weltliteratur – bedenkenswert

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Kracht-Kenner Marcel Schmid (Yale)  über Christian Kracht in Amerika, panisches Zurückblättern, das Prädikat Weltliteratur, spannendere Themen als die endlose Ironie-Debatte und die vielleicht bald müssige Frage, warum der Erfolgsautor bei literarischen Auszeichnungen bislang meistens leer ausging.

Von Christoph Steier
1. Oktober 2016

Christian Kracht gilt als kosmopolitischer Dichter. Welche Rolle spielt er in der aktuellen amerikanischen Wahrnehmung?

Deutsche Gegenwartsdichter werden in der amerikanischen Öffentlichkeit eher wenig wahrgenommen. Christian Kracht wurde erst vor kurzem mit Imperium erstmals ins Englische übertragen, die Reaktionen auf die – übrigens herausragende und preisgekrönte – Übersetzung von Daniel Bowles zeigten jedoch sofort das grosse Potenzial: Imperium wurde vom The Wall Street Journal über die Huffington Post bis zur New York Times durchweg positiv besprochen. Kracht hält auch Lesungen auf dem gesamten nordamerikanischen Kontinent, die häufig von deutschsprachigen Kulturinstitutionen organisiert werden. Seine Werke sind schon länger Thema in den Bildungsinstitutionen, nicht nur auf Lesungen, sondern auch auf Workshops und Tagungspanels. Würden Die Toten bald übersetzt, sehe ich ein sehr grosses Potenzial: Auch wenn im neuen Buch wie bisher die Geschichte Deutschlands eine elementare Rolle spielt, stehen mit Film, Filmkritik und Fotografie dieses Mal international sehr anschlussfähige Themen im Vordergrund. Eisner, Kracauer und selbstverständlich Chaplin sind gerade nordamerikanischen Raum sehr vertraute Figuren. Felix Stephan geht in seiner Rezension in der Zeit sogar noch weiter und verleiht dem Roman das Prädikat Weltliteratur – bedenkenswert.

Warum erhält Christian Kracht viel Aufmerksamkeit, aber kaum Literaturpreise?

Darüber kann ich nur spekulieren. Kracht wird ja von der Öffentlichkeit, vom Feuilleton und der Wissenschaft schon länger wahrgenommen und als intellektuell ernstzunehmender Gegenwartsautor besprochen. Vielleicht ist er kein sogenannter Feuilletonliebling. Allerdings scheint mir die Frage nach Popularität und Preisen eine doch sehr mitteleuropäische zu sein. Im Gegensatz zu Amerika wird im deutschsprachigen Raum – wie kürzlich am Beispiel von Sophie Hunger – immer mal wieder die Frage diskutiert, ob sich das Umsatzvolumen negativ auf die Preisfähigkeit auswirkt. Mit Pierre Bourdieus Forschungen zum symbolischen Kapital liesse sich das auch theoretisch fundieren. Christian Kracht hat ausser dem Wilhelm-Raabe-Preis bisher keine bedeutende Auszeichnung erhalten. Aber ich denke, das kann und wird sich bald ändern.

Zur Person

Der Literaturwissenschaftler und Kracht-Kenner Dr. Marcel Schmid arbeitet nach Studienaufenthalten in Zürich, New York und New Haven derzeit als SNF-Fellow an der Yale University. Als Autor der Monographie Autopoiesis und Literatur und Herausgeber von Die Literatur der Lebensreform bereitet er derzeit mit Jerome Bolton und Immanuel Nover die erste englischsprachige Einführung (The Case of Christian Kracht: Authorship, Irony, and Anything Goes) in Krachts Werk vor. Darüber hinaus denken seine Mitstreiter und er schon länger, aber nicht mehr lange über den perfekten Zeitpunkt für die Gründung einer internationalen Christian Kracht-Gesellschaft nach.

 

Oft scheint es, als kommentierten Krachts Romane die Rezeption ihrer Vorgänger. Führen «Die Toten» dieses Spiel fort? Zumindest die schwelende Faschismusdebatte beruhigt der neue Roman ja eher nicht.

Dazu müsste man wissen, wann Kracht begann, an Die Toten zu schreiben. Ich bin nicht sicher, ob das Schreiben und die Veröffentlichung von Krachts Romanen zwangsläufig einer chronologischen Ordnung folgen. Ich würde zumindest behaupten, dass Die Toten keinesfalls als Pastiche zur Imperium-Rezeption zu lesen sind. Bezüge können allenfalls zur Debatte um die Vermischung von historischen Fakten und fiktiven Begebenheiten hergestellt werden. Den Roman als Reaktion auf die Faschismusdebatte zu lesen, halte ich aber für wenig ergiebig. Die Erzählstimme in Die Toten wirkt deutlich zurückhaltender als in Imperium und gibt sich nicht als ein dem jungen 20. Jahrhundert zeitgenössischer Kommentar zu erkennen. Hier einen faschistischen Grundton zu finden (den ich übrigens auch in Imperium nie fand), ist schwierig.

Wie stehen Sie zu Christian Krachts vielzitierter Ironie? Gibt es spannendere Ansätze, um über Krachts Poetik ins Gespräch zu kommen?

Tatsächlich kann man Christian Krachts Bücher, aber auch seine Interviewstrategien ironisch lesen. Da fällt mir beispielsweise ein Interview zu Imperium ein, in dem Kracht zu Protokoll gab, dass er eigentlich Maler werden wollte und vielleicht besser bei seiner Staffelei geblieben wäre. Das sind aber eben jene Worte, mit denen er in Imperium Hitler beschreibt. Da aber jede Ironiediskussion sich im endlosen Regress zu verlieren droht, würde ich mich eher auf für Kracht typische Topoi, wie beispielsweise die Todessehnsucht in Die Toten konzentrieren, Topoi also, die – historisch belegt – dead serious sind. Weiterführender als die Ironiedebatte sind ganz sicher auch die historischen Themen, die Kracht in seinen Romanen verarbeitet. In Imperium könnte man die Lebensreformbewegung um 1900 nennen und in Die Toten selbstverständlich die Filmgeschichte.

Lässt sich Krachts neuer Roman auch ohne ausgiebige historische Recherchen verstehen? Wie sieht die ideale Kracht-Leserin dieser Tage aus?

Ich glaube, dass sich in Die Toten für die Lesenden viele Anschlussmöglichkeiten eröffnen, unabhängig davon, ob man nun film- und fotohistorisch, interpretationsgeschichtlich oder filmpolitisch bewandert ist. Ich zum Beispiel stecke seit den ersten paar Seiten in einem ganz spezifischen Bild fest, nämlich in Arnold Böcklins Toteninsel und im Klang von Sergei Rachmaninows kongenialer Vertonung. Auf der Tatsache, dass der Tod im Roman auf den Inseln Honshū und Hokkaidō ständiger Begleiter ist, lässt sich vielleicht keine ganze Romaninterpretation aufbauen. Aber darum geht es auch nicht. Ich will damit nur sagen, dass sich die ideale Kracht-Leserin dieser Tage nicht eigens für den Roman historisch bilden muss, sondern Krachts Werk immer schon mit kulturellen Versatzstücken gearbeitet hat, die an ganz unterschiedliche Bildungshorizonte anschlussfähig sind. Und dann eben durchaus differierende Lektüren ergeben.

Was fasziniert Sie persönlich am neuen Buch – und welchen Roman empfehlen Sie denen, die ihre erste Kracht-Lektüre noch vor sich haben?

Die sehr durchdachte Struktur gefällt mir wie immer bei Kracht, hat aber hier nebst den üblichen Selbstbezüglichkeiten einen nahezu halluzinogenen Effekt. Das Aneinanderreihen von lieblichen Begebenheiten und äusserst brutalen Szenen dient zusammen mit der pathetischen, stilblütenlastigen Sprache nicht so sehr zur Spannungserzeugung, sondern provoziert einen blätternden Irrsinn, ein panisches Zurückzublättern, getrieben von der permanenten Frage, ob man, fast wie bei Heinrich von Kleist, tatsächlich das soeben gelesen hat. All jenen, die diesen Kracht-Effekt gleich in allen Facetten kennenlernen möchten, empfehle ich Krachts dritten Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von 2008. Viele mögen sich nun die Augen reiben, denn wie schon der Titel andeutet, ist das Buch sperrig, viel sperriger als Faserland oder 1979. Aber gerade darin liegt das Faszinosum. Unglaubliche Begebenheiten, historische Unwahrheiten, esoterisches Geschwafel, das alles jedoch kombinatorisch brillant eingebettet in eine souveräne, durchdachte Struktur, die zu beschreiben wahrscheinlich genauso lange dauern würde wie die Lektüre des Romans. Mit der denn auch umstandslos begonnen werden sollte, viel Vergnügen!

Das Gespräch führte er mit Christoph Steier.