KW38

Sperrige Körper, bewegte Sprache. Eindrücke von den 15. Frauenfelder Lyriktagen

ada lovelace clavadetscher

Bereits zum fünfzehnten Mal wurde am vergangenen Wochenende in Frauenfeld zu den biennalen Lyriktagen ins Eisenwerk eingeladen.

Von Ursina Sommer
17. September 2019

Die Umstände an diesem Samstagabend im September sind nicht ganz günstig, denn «[n]och schenkt der späte Sommer Tag um Tag / Voll süsser Wärme», locken draussen Grillduft und allerlei gesellige Zerstreuung. Die Veranstalter scheinen um die Problematik zu wissen, denn die Fenster, durch die eben noch die stechende Septembersonne gedrungen ist, werden verdunkelt und mit dem Licht verschwinden auch die prosaischen Spätsommergeräusche. Die Scheinwerfer gehen an, das Publikum wird ganz auf Lesung eingestellt. Man erinnert sich bei dieser Gelegenheit an die obligate Frage in der Begleitbroschüre: «Wozu Lyrik heute?» Das überraschend junge Publikum scheint sich jedoch ganz darauf einzulassen, zumal zum kleinen Jubiläum die Lust am Gedicht durch Poetinnen und Dichter aus unterschiedlichen Generationen und durch die Einbindung der bildenden Kunst geweckt werden soll. So gehört nebst Beat Brechbühl, John Burnside, Zsuzsanna Gahse, Jürg Halter, Anja Kampmann, Sepp Mall und Marina Skalova auch die Künstlerin Nicole Bachmann zu den geladenen Gästen.

Das Sperrige feiern

Dieser zweite Abend wird von der Vertreterin der Kulturstiftung mit dem Hinweis eröffnet, nicht nur Massentaugliches, sondern gerade auch «das Sperrige» verdiene es, gefördert zu werden. Sie bezieht sich damit auf den fast schon zur Tradition gewordenen Vorwurf der poetischen Unzugänglichkeit und umreisst gleichzeitig eine ziemlich brauchbare Definition von Lyrik als Gattung, die durchaus sperrig sein darf und soll.

Was die Lyrik ganz grundsätzlich von der Prosa unterscheide, fragt die diesjährige Kuratorin und Kommunikationsfachfrau Anna Kulp im Anschluss an die Kurzlesungen in die Runde. Jürg Halter, vormals Kutti MC, der eigenen Worten zufolge sein «zwanzigjähriges Jubiläum als Jungautor» – dies intendiert als bitterböse Nebenbemerkung zu den festgestanzten Labels des Betriebs – feiert, nutzt die Gelegenheit, die Abwesenheit des Politischen vom Format der Texte einer Kate Tempest in der deutschsprachigen Szene anzuprangern. Kritik aus den eigenen Reihen! Nun kommt Leben in die Runde, sämtliche Vortragenden wollen ihre Lyrik als gesellschaftlich engagiert verstanden (oder zumindest gelesen) haben. Wie politisch engagierte Lyrik jenseits des Plakativen auszusehen habe, kann jedoch auf keine eingängige Formel gebracht werden. Auch die Trennlinien zwischen Prosa und Lyrik bleiben im Verlauf des Gesprächs unscharf. Sobald in einem Roman die Form ins Zentrum rückt, werde in Rezensionen nicht selten vom «Gedicht in Prosaform» darüber geschrieben, stellen Kampmann und Halter belustigt, aber auch etwas ratlos fest.

Interdisziplinäres Intermezzo

Kurz vor dem Apérobuffet dann also «Into the soft parts», eine von Nicole Bachmann eigens für die Frauenfelder Lyriktage entworfene Sprach-, Klang- und Tanzperformance. Die Tänzerinnen Emma Murray und Patricia Langa führen eindrücklich vor, wie Sprache und Körper «als Form von Widerstand oder Protest» fungieren können. Ausgehend von dieser künstlerischen Darbietung wird im anschliessenden «interdisziplinären Gespräch» der Künstlerin mit Gahse, Halter und Kampmann ein rezeptionsästhetisches Problem der Lyrik eruiert: Während die bildenden Künste als Erfahrungsraum wahrgenommen und akzeptiert werden, wird an die Lyrik allzu oft ein Anspruch der intellektuellen Deut- und Erklärbarkeit herangetragen. Dabei wünscht man auch der Lyrik mehr öffentliche Wirkung: Gemeint ist damit nicht etwa «Gedicht im Bilderrahmen», – dies wird dezidiert und unisono abgelehnt – sondern Präsenz im öffentlichen Raum: auf der Strasse, im Radio, in der U-Bahn.

Körperklang

Im letzten Teil dieses Samstagabends, seinem heimlichen Höhepunkt, hat man plötzlich klar vor Augen, wie eine Replik auf den stets wiedergekauten Vorwurf des gesellschaftlich Irrelevanten – welcher von John Burnside, der den Abend stimmungsvoll beschliessen wird, auf eine isoliert betrachtete Gedichtzeile des englischen Poeten W.H. Auden, Dichtung bewirke nichts («Poetry makes nothing happen»), zurückgeführt wird – aussehen könnte. Die 1988 in Moskau geborene und auf Deutsch und Französisch schreibende Marina Skalova präsentiert Lyrik, die von einer radikalen Körperlichkeit durchdrungen ist. Ihre Lesung, in rasanter Atemlosigkeit vorgetragen, offenbart eine Textpraxis, die Bedeutungssetzungen ins Vielfache zersplittert und formal-performativ die stille Revolution der poetischen Sprache durchschimmern lässt. Und so kommt dem «Sperrigen» der Lyrik eine ganz neue Bedeutung zu: Das Gedicht als Körper, der die symbolische Ordnung stets aufs Neue unterminiert und in Frage stellt.

Dieses konsequente Einstehen für die Lyrik mit dem eigenen Körper vermag allerdings nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es nach wie vor keine systematische Gattungstheorie der Lyrik gibt. Die Frage danach, was Lyrik überhaupt ist, wird gerne als Spitzfindigkeit oder als gewaltsamen, die Vielfalt innerhalb der Gattung beschneidenden Eingriff empfunden. Diese Deutungsart öffnet jedoch nicht zwingend Freiräume, sondern kann der Lyrik auch abträglich sein. Das in verlässlicher Regelmässigkeit wiederkehrende Bild des «Stiefkinds der Literatur» zeigt, dass die Lyrik ohne klare Konturen in die Beliebigkeit abzudriften droht. Dass sich an diesem Abend in Frauenfeld so viele engagierte Stimmen zusammengetan haben, um über diesen Gegenstand nachzudenken, stimmt allerdings hoffnungsvoll.

Gegen Ende des Abends wird angekündigt, man habe der kühlenden Luft willen die Fenster nun wieder geöffnet. Und in der Tat verlässt man das Eisenwerk mit dem erbaulichen Gefühl, es sei etwas frischer Wind aufgekommen.

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