KW31
Sprachperlen im Sand

In seinem Lyrikband «sablun» öffnet der Engadiner Schriftsteller Dumenic Andry seinen Lesern die Augen für das scheinbar Banale und die Ohren für die vielschichtige Beziehung zwischen «sun e sen», zwischen Wortklang und Wortsinn.
Die rätoromanische Leserschaft kennt ihn aus seinen beiden Büchern und Kolumnen als feinen Satiriker der kleinen und grossen Welt sowie als Autor philosophischer Kurzprosa. In der bereits vierzigsten Publikation des noch jungen rätoromanischen Verlags Chasa Editura Rumantscha präsentiert uns Dumenic Andry knapp achtzig lang gereifte, ausgefeilte Gedichte in einer nachdenklichen und ernsten Tonalität.
Was die Qualität von Dumenic Andrys Schreiben ausmacht, sind die Kondensierung eines Gedankens oder einer Aussage in eine literarische Kürzestform (Lyrik oder Kurzprosa) und die gleichzeitige, stetige Reflexion (im doppelten Wortsinn von Nachdenken und Spiegelung) von Sprachlichkeit. Und dies vorgetragen in aller Eleganz, Leichtigkeit und Bescheidenheit. Sein literarisches Werk ist ausschliesslich auf Vallader erhältlich, dem rätoromanischen Idiom des Unterengadins. All dies sind nicht ganz einfache Voraussetzungen, um diesen Autor und sein Werk einer deutschsprachigen Leserschaft vorzustellen. Denn das, was sein Werk im Innersten ausmacht, ist unübersetzbar: Wenn er beispielsweise im Gedicht «Il mai» von der Mehrdeutigkeit des Wortes «mai» ausgeht, das sowohl den Monat «Mai» wie «nie» bedeutet, um sich darüber zu beklagen, dass es im Engadin nie Frühling wird und er sich dabei mit der Reproduktion abgedroschener Leierreime auch noch über die mangelnde literarische Qualität und die im Widerspruch zur Realität stehenden Idyllen der zahlreichen traditionellen rätoromanischen Frühlingsgedichte lustig macht, ist das für eine Übersetzung schlicht zu viel an kondensierter Be- und Andeutung.
In einem anderen kurzen Prosatext aus dem Buch «Uondas» sinniert Dumenic Andry ausgehend von neuen Wortschöpfungen im Rätoromanischen für Steuerzahler, Steuerflucht und Wirtschaftsflüchtling über verschiedene Arten von Flucht und den differenzierten Umgang der Kantone mit Steuer- oder eben Wirtschaftsflüchtlingen. Die kurze Reflexion über Benennung und Benanntem lädt die Neuschöpfungen mit widersprüchlichen Bedeutungen auf, bis sie als Worthülsen implodieren. Die Sprachschöpfung des Literaten unterwandert die Wortschöpfung der Terminologen. Der kurze Essai «habito ergo boom» reflektiert die Bedeutungsschattierungen verschiedener Synonyme von «wohnen» (abitar, star, viver, esser da chasa), welche verschiedene Grade von «sich zu Hause fühlen» enthalten, in Zusammenhang mit einem Eintrag aus dem Dicziunari Rumantsch Grischun der 1930-er Jahre (abitaziun sei als Lehnwort zu taxieren, weil «hier das Einfamilienhaus die Regel ist») und der Kontroverse um Erst- und Zweitwohnungen.
Gedichte über Identität
Auch in einer ganzen Reihe von Gedichten aus dem neuen Lyrikband «sablun» geht es um das weite Thema der Identität, um das sich zu Hause oder fremd fühlen in der eigenen Haut, in einer Gemeinschaft, im menschlichen Schicksal. Das Gedicht «ester» spielt dabei mit den Lauten «sch» und «sch-t» («s» wird im Rätoromanischen vor Konsonant palatalisiert), die mit ihrem siebenmaligen Erscheinen diesem Gedicht beim lauten Lesen einen zischenden Unterton geben, der nach Orakel und unabwendbarem Fatum tönt. Meine Übersetzung möchte ich explizit als Behelfstext verstanden wissen:
ester
ester est
ed ester
restast
sco fin qua
eir a chà
fremd
fremd bist du
und fremd
bleibst du
wie immer schon
auch zuhaus‘
Drei Gedichte finden Worte für die zutiefst menschliche Angst vor fremdbestimmtem Leben und zugeschriebener Identität:
na chi
na chi
cha tü est
be
da chi
e tschai
faina no
restar
i’ns mettan a cour
da restar
inavant
quels cha no
nun eschan
mâ stats
ed eir els
as dan
tuotta fadia
e darcheu
e darcheu
at laschast büttar
adöss
lur rait
tschüf laint
stast a dombrar
anzas
e sömgiast
da curtels…
nicht wer
nicht wer
du bist
nur
von wem
und den Rest
erledigen wir
bleiben
sie legen uns nahe
weiterhin
jene zu bleiben
die wir
nie
gewesen sind
und auch sie
geben sich
alle Mühe
und wieder
und wieder
lässt du dir
ihr Netz
anwerfen
gefangen
zählst du
Schlingen
und träumst
von Messern…
Sandgedichte
Der Titel von Dumenic Andrys neuem Lyrikband, «sablun» (Sand), ist schlicht und weckt doch eine Reihe von Assoziationen und Erwartungen. Sand ist ein ambivalentes Material: weich und hart, schwer und leicht, trocken und nass, wertvoll und wertlos. Als formbare Materie kann Sand dazu dienen, etwas zu schaffen (Sandburgen zum Beispiel), als geglättete Oberfläche kann es dazu dienen, etwas zu schreiben. Sand ist pulverisierte Materie und damit immer auch kurzlebig und vergänglich – so ist es verwandt mit Staub und Asche, alle drei wichtige Elemente in der Literatur. Bei Sand erinnern wir uns an Paul Celan mit seinem Gedicht «Keine Sandkunst mehr» und seinem Gedichtband «Der Sand aus den Urnen» oder an Nelly Sachs mit ihren «Zeichen im Sand». Sand steht auch für die Feilarbeit an Wort und Gedanken, wie beispielsweise bei Jorge Luis Borges und seiner Novellensammlung «El libro de arena» (Das Sandbuch) oder bei Italo Calvino und seinem Essayband «Collezione di sabbia».
Gemäss dem Nachwort von Clà Riatsch kündet schon der Titel mit dem Verweis auf das alltägliche und bescheidene Material die typisch moderne Verweigerung strenger Formen und hehrer poetischer Motive an, welche die Dichter der Moderne als rhetorischen Kitsch empfinden. Diese Gedichte suchen nicht grosse Worte, sondern nehmen scheinbare Banalitäten und Kleinigkeiten, alltägliche Beobachtungen und Aussagen zum Anlass, einen Reflexions- und Interpretationsraum zu schaffen, welcher auf existentielle Fragen des menschlichen Daseins verweist. Der Sand und das Meer sind dabei Chiffren, die sich wie ein roter Faden durch die Gedichte ziehen: Meer als Kristallisationspunkt von Exotik, Heimweh, Sehnsucht, Abenteuerlust, Freiheitsgefühlen, Sand als Sinnbild für Vergänglichkeit (Celan: die rieselnden Stunden), wandelbare Traumlandschaften und Gefühlswüsten, aber auch für die Leichtigkeit des Schmetterlingsflugs, den nur der feine Sand auf den Flügeln möglich macht.
teis nom
teis nom
da sablun
a la riva dal mar
set leuas
lichan
il sal
da mia said
dein Name
dein Name
aus Sand
am Meeresstrand
sieben Zungen
lecken
das Salz
meines Durstes
Dieses Gedicht – wobei die Übersetzung Behelfstext bleibt – zeigt wie der Sand und die damit verbundenen Elemente (Strand, Meer, Salz) für die knappe Beschreibung eines Erlebnisses, einer Erfahrung dienen. Der Name des «du» ist aus Sand und darum vergänglich, die salzigen Meereswellen haben ihn weggeschwemmt. Das «ich» bleibt allein zurück mit dem salzigen Beigeschmack, hat sein Salz, sein Kleinod verloren. Der Wortklang unterstreicht im ersten Teil mit den vielen «a»s («da sablun / a la riva dal mar») die harmonische Stimmung, die Wiederholung der «i»s im zweiten Teil verweist auf die emotionalen Hiebe und Stiche, die Vokallaute «ia» und «ai» erinnern an ein Wehklagen («lichan il sal / da mia said»). Und wenn man im rätoromanischen Original gut hinhört oder hinschaut, entdeckt man in den genau sieben «l»s des Gedichts sogar die sieben Zungen.
Es ist keineswegs so, dass sich alle Gedichte dieses Bands auf das Thema Sand reduzieren liessen. Aber sie kreisen stetig neu um die angesprochenen existentiellen Fragen, schaffen ausgehend von der Begriffswelt um Sand, Meer, Strand, Schiff, Hafen, Matrose, Wüste, Wasser mannigfaltige Bilder und Assoziationen und manifestieren die Handschrift eines sprachaffinen, einfallsreichen, tiefsinnigen und unermüdlich Worte feilenden Autors. Mögen seine Gedichte von der Vergänglichkeit des Sandes verschont zu bleiben.
cuorsa
mias s-charpas
pella cuorsa
tras il god
han curajas
be nufs
e sgurdibels e
soulas da plom
mia brama
quella va
scuzza
Rennen
meine Schuhe
für das Rennen
durch den Wald
haben Bändel
voller Knoten
und Knäuel und
stählerne Sohlen
meine Sehnsucht
geht
barfuss
Dumenic Andry: sablun. 112 Seiten. Chur: Chasa Editura Rumantscha 2017. 30.- CHF.