KW43
TAKE COVERChristian Kracht: «Die Toten»

Wollte man «Die Toten» darstellen, es wäre wohl kaum dieser Holzschnitt, der zur Visualisierung des nicht mehr Gegenwärtigen ausgesucht würde. Vielmehr würde man wohl ein Bild suchen, das plakativ das Lebendige gegen das Tote stellt. Edvard Munchs «Das Kind und der Tod» käme in Frage. Caspar David Friedrichs «Kügelgens Grab» vielleicht. Arnold Böcklins «Toteninsel» als letzte Ruhestätte in der Gesteinsformation. Ophelia im Wasser treibend. Ferdinand Hodlers Valentine im Sterbebett. Eine ausgepustete Kerze als Allegorie des memento mori. Von solcher – im westlichen Sinne – entzifferbarer Lesbarkeit scheint das Umschlagmotiv für Krachts Roman weit entfernt zu sein.
Und doch ziert die Erzählung der bereits erwähnte Holzschnitt, der ein europäisch anmutendes eisernes Tor und eine Strasse mit Schienen darstellt. Weiss man um das Original dieses Faksimiles, stellt der Bildvordergrund die Shin Ohasi Brücke dar, die den gangbaren Weg über den Sumida-Fluss schlägt. Tor wie Strasse dominieren die Darstellung, so dass das untere Bilddrittel durch Asphalt und Schienen ausgefüllt wird. Sie führen links unter dem die obere Bildhälfte bestimmenden Eisentor auf eine Brücke, verlaufen rechts aber in einem breiten Bogen aus der Darstellung hinaus. In dieser Szenerie verweilen drei, vielleicht vier Menschen, die links, mittig im Bild, über die Brücke schreiten. Zwei gehend, einer eine Kutsche ziehend und, so diese besetzt ist, einer sitzend. Sie bewegen sich behutet und mit Regenschirmen ausgestattet entlang des Gerüstes, das analog zur Brücke links unter dem Eisentor hindurch sowie rechts zur Laterne hin am Horizont der Darstellung verläuft. Hinter diesem Gerüst scheint hingegen nichts zu liegen. Man könnte ein paar Wolken ausmachen, eng der Strasse entlang sieht man auch noch drei kleine Lichtkugeln. Ansonsten ist der Hintergrund durch einen weissen, niederprasselnden Regen vernebelt. Das Dahinter wird ausgesperrt – der Blick auf Tokyo verschwimmt hinter den fallenden Tropfen, die zugleich einen sinnlichen Eindruck von Kälte evozieren. Was dem Betrachter als erzählerisches Moment übrig bleibt, sind diese drei Figuren, die nichts von sich preisgeben. Die Szene – im Original ein Druck des Holzschnittes «Nächtlicher Regen auf der Shin Ohasi Brücke» von Hasui Kawase, der 1926 im Umfeld der Shin-Hanga-Bewegung entstand – könnte geradezu ein an Erzählmangel krankendes Bildfeldchen in einem Comic sein, ein szenisches Filmstill, eine Fotographie des Alltäglichen aber auch Nichtssagenden.
Dennoch greift – wenn auch nicht durch eine pompöse Geste – das Bildnarrativ Krachts Erzählung und im weitesten Sinne auch Nägelis Film durchaus auf. Nicht nur wird durch die Darstellung von Schienen bei gleichzeitiger Absenz eines modernen Fortbewegungsmittels – denn statt eines Trams rollen die Räder der Rikscha über die Brücke – die Bruchstelle zwischen Tradition und Moderne markiert. Auch in der westlich anmutenden Konzeption des Eisengerüstes ist der europäische Einfluss nach der Öffnung Japans 1853 angelegt. Auf performativer Ebene entspricht dem das Medium des Holzsschnitts, das in vormoderner Technik Modernität zu fassen versucht, auf der Ebene der Erzählung wiederum korrespondiert dem epochalen Umbruch der Wechsel von Stummfilm zu Tonfilm, der um 1930 vollzogen wird.
Freilich haben «Die Toten» ihren ganz bestimmten Platz auf diesem Bild. Betrachten wir es erneut, zeigt zunächst die Komposition einige Auffälligkeiten: Die vertikale Strukturierung des Bildes durch die Bindfäden des niederprasselnden Regens, die Laternen und die Eisenkonstruktion wird in der Horizontalen durch die breite Brücke samt Schienen und den Giebel des Tores gebrochen. Befinden sich Tor, Brücke und Gerüst sowie die Schienen in einem synthetischen Gleichgewicht – würden die Schienen den weiten Bogen nicht vollziehen sowie rechts die Laternen nicht ins Dunkel leuchten, so verliehe dies dem Bild eine nach links ausschlagende Schwere –, so konkurrenziert der Regen die Struktur der konstruierten Wirklichkeit. Die narrative Dominanz der techné, die die räumliche Aufteilung widerspiegelt, wird durch die herniederprasselnde Naturkraft unterspült, lässt der Regen doch den festen Boden der Tatsachen in eine gelb-bläulich verzitterte Szenerie übergehen, indem er eine nasse Spiegelung der lichtbringenden Laternen erzeugt, die an den eisernen Säulen des Tores hängen. Zudem zwingt er die dargestellten Menschen in die Gesichtslosigkeit, in eine nurmehr schemenhafte Existenz, eine Zwitterwelt – in der, folgt man dem Roman, eben «Die Toten» zuhause sind. Wir finden den Text somit hinter dem Bildnarrativ, oder, wie es Emil Nägeli beschreibt: hinter einer transparenten Membran, welche «das dunkle, wunderbare Zauberlicht hinter den Dingen» erfassbar macht. Ungeachtet des Hier und Jetzt dringt «die Kosmologie unseres Seins» durch die Dinge hindurch, als ein allgegenwärtiger Rhythmus des Seins, der sowohl in den Dingen, als auch hinter dem Schleier der Maya liegt.
Krachts Tote sind somit graphisch subtil inszeniert, sie sind nicht gegenwärtig und doch omnipräsent. Sehen kann man sie freilich nur dank einer Zurichtung der Bilder, denn fasst man den gesamten Druck von 1928 ins Auge, so fehlt bei der Krachtschen Version ca. ein Fünftel des rechten Bildrandes – ein Einschnitt, der jedoch eine intermediale Lektüre ermöglicht. Wie in Nägelis Film, wie in Krachts Buch verbergen sich die Toten im Medium des Lebendigen, das stets durch eine Dreiheit charakterisiert ist. Im Nō-Theater, das der Roman aufsucht, bildet diese Dreiheit der langsame Akt jo, der beschleunigende zweite Akt ha [!] und das zügige Ende kiū; in der Höhle, in der auf Masahiko Amakasu die rot maskierte Allegorie der Poesie wartet, kehrt die Dreiheit dann wieder in den drei Kerzen, die die Figuren von der Dunkelheit trennen. Durch das Weglassen des rechten Bildfünftels und der weiteren Lichtquellen sind exakt drei kleine Lichtkugeln jenseits des Geländers auszumachen – als ob nur sie fähig wären, dasjenige sichtbar werden zu lassen, das den Zeitschleier durchbrechen könnte, «der uns Sterbliche daran hindert, die Kosmologie unseres Seins zu erfassen.» Den drei Figuren auf der Brücke ist der Riss in der Zeit – ein Spalt im Vorhang des transparenten Membrans – nicht vergönnt. Auf sie prasselt der Regen – der Gang der Dinge – unablässlich nieder. Sie verbleiben in dieser «Zwischenwelt, in der Traum, Film und Erinnerung sich gegenseitig heimsuchen», die ein «Totenreich» ist, in dem alle «unendlich einsame Geschöpfe» bleiben.