KW29
The kids are alright

Sabine Gisins erster Roman trägt den rätselhaften Titel «Teneber Vid». Auf diesen Namen hatte der Vater der Protagonistin den «Geist der Leere» getauft. Von fern klingt darin Baudelaire mit, poetischer Anwalt der Passionen. Und auch sonst kämpft das schmale Buch energisch gegen diesen «schrecklichsten aller Geister». Von seinem Vater hat das namenlose «Mädchen» nämlich nicht nur den Hang zur idiosynkratischen Verdichtung der Welt geerbt, sondern auch den Wunsch nach Freiheit, der die bestehenden sozialen Gefüge auf die Probe stellt.
Die Kinderperspektive hat der jüngeren Schweizer Gegenwartsliteratur einige beachtliche Titel beschert. Am unvergesslichsten sicher in Julia Webers «Immer ist alles schön» (2017) und Vincenzo Todiscos «Das Eidechsenkind» (2018), sehr überzeugend aber auch in Tabea Steiners «Balg» (2019) oder bei Gisins Verlagskolleginnen Noemi Lerch («Grit», 2017) und Isabelle Ryf («Konrad, Felix und ich», 2017).
Den Verfremdungseffekt dieser Perspektive macht sich auch Sabine Gisin zunutze, um die Geschichte des «Mädchens» auf seinem Weg von den «Bachbetten» der Kindheit hinaus in die rätselhafte, gefährliche und zugleich faszinierende Welt zu erzählen. Nochmals verfremdet wird die Verfremdung durch die Wahl der dritten Person, die dicht an der Hauptfigur entlang erzählt, deren Inneres aber weitgehend verschlossen hält. Stattdessen Sprache und Handlung, selten Reflexion. Das erinnert stilistisch an den Nouveau Roman, zielt motivisch aber deutlich aufs Märchenhafte, gelegentlich auch Allegorische ab. Aus dieser mit wenigen Ausnahmen fein austarierten Spannung von nüchternem Protokoll und märchenhafter Übercodierung erwachsen sehr eigensinnige Erzählräume, die Sabine Gisin souverän zu bespielen weiss.
Da ist beispielsweise die an den Solothurner Literaturtagen vor einem teils ratlosen Publikum vorgetragene Eröffnung des Romans, die ohne Einsicht in die ästhetische Struktur des Romans anstössig wirken mag: Wird doch ohne erkennbare Wertung erzählt, wie das arglose «Mädchen» auf seinem Weg in die «Stadt» von einem älteren «Mann» auf dem Raststättenklo zur manuellen Befriedigung aufgefordert wird, diesen Übergriff jedoch nur mit einem erstaunten «Es bewegt sich, es erwacht» kommentiert. Das Märchenhafte wandert in die Wahrnehmung des «Mädchens», «es» könne immer «weiter und weiter und weiter» wachsen, gerade dadurch wird jedoch die klare moralische Tiefenstruktur jedes Märchens suspendiert; die Leserinnen und Leser werden auf ihr eigenes Urteil zurückgeworfen und müssen dieses im Verlauf der Handlung mehrfach revidieren. Scheint am Anfang noch durch das vermeintlich geringe Alter der Hauptfigur alles klar, entwickelt sich der Roman über die Grauzone des Verkehrs mit einem älteren «Freizeitprogrammleiter» bis zur passionierten Beziehung mit dem gleichaltrigen «Jungen» zur Biographie einer jungen, sexpositiven Frau.
Diesen «Jungen» findet die Hauptfigur im zunächst bedrohlich wirkenden städtischen «Schloss», das sich jedoch als eher harmlose Einrichtung entpuppt. Mit dem neuen Gefährten unternimmt das «Mädchen» raumzeitlich zunehmend verschwimmende Reisen und Streifzüge an den Strand, ins Nachtleben, in die Vorstädte, in Bars und Clubs und fremde Städte. Hier wird nun einerseits klar, dass das «Mädchen» vermutlich deutlich älter ist, als es der Beginn der Erzählung insinuiert, andererseits schält sich in den traumlogisch gleitenden Szenen die Erkenntnis heraus, dass es den Erwartungen des «Jungen» an seine Sexualität und Identität nicht gerecht werden kann und will. Zwar versucht das Mädchen noch, mit immer länger werdenden Listen («Ich muss verstehen./Muss verbergen./Muss täuschen/Muss bezwingen./Muss halten») zur fremdbestimmten Selbststeuerung zu kommen, doch am Ende stehen die Trennung und ein neuer Aufbruch: «Mit dem Schloss bin ich fertig. Ich brauche etwas zur Kräftigung. Ich muss raus aufs Meer und mein Schiff hat Kursschwierigkeiten.»
In derlei «Kursschwierigkeiten» gerät auch, wer dieses dichte, mit wenigen Ausnahmen lustvoll-streng komponierte Buch in einem Zug durch- bzw. weglesen möchte. Der Roman erfordert eine konzentrierte, auch wiederholte Lektüre. Umso bedauerlicher, dass die aufwändige Gestaltung diesem wiederholten Zurhandnehmen nicht standzuhalten vermag. Schon nach einigen Tagen löste sich die Schrift vom roten Samt des Umschlags, haftete in schwarzen Krümeln an den Fingern. Das ist einerseits ärgerlich, andererseits poetologisch auch bloss konsequent – für Menschen, die sich beim Lesen ja nicht die Finger schmutzig machen wollen, ist dieses gelungene, höchst konsequente Debüt ohnehin nicht geschrieben.
Sabine Gisin: Teneber Vid. 104 Seiten. Biel: die brotsuppe 2019, 25 Franken.