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Tod eines Schwaflers

Romana Ganzoni Gianna Conrad

Vier Jahre nach der viel beachteten Novelle Frühling der Barbaren legt Jonas Lüscher mit Kraft seinen ersten Roman vor. Den Verwerfungen des Spätkapitalismus bleibt er auf der Spur, zur Krise der Wirtschaft gesellt sich eine Krise des Wissens und seiner Institutionen. Ein erzählerischer Kraftakt, der nur um den Preis der Burleske gelingt.

Von Christoph Steier
30. Januar 2017

Die Verballhornung von Namen war schon in der antiken Rhetorik verpönt. Wenn Jonas Lüschers Roman auf der eher schlichten ironischen Wendung beruht, dass der Titelheld Kraft seinem Namen eben keine Ehre macht, handelt es sich indes um eine gezielte Spitze: Kraft, ein Tübinger Rhetorikprofessor jenseits der besten Jahre, lässt nämlich keine Gelegenheit aus, seine lumpige Gesinnung mit lausiger Performance auch dem letzten Trottel zu offenbaren. Womit natürlich keinesfalls die Leserinnen und Leser gemeint seien dürfen. Die sich deshalb von der «wir»-seligen Erzählstimme sogleich in eine wohlfeile Beobachterposition genötigt sehen, von der aus die Verrenkungen «unseres Kraft“ im Hamsterrad spöttisch zur Kenntnis nehmen sind. In Schwung gebracht wird das Rad von einem kalifornischen Unternehmer, der eine Million Dollar für den Entwurf einer postmodernen Variante der Theodizee ausgelobt hat: Hatte Leibniz noch den lieben Gott vor dem Elend der Welt rechtfertigen wollen, genügt dem Silicon-Valley-Visionär Erkner bereits ein wenig «Optimismus für ein noch junges Jahrtausend.» Warum also, will der sonst an eher dystopischen Projekten wie Freihandelsinseln und Grundnahrungsbrei interessierte Unternehmer wissen, ist das Bestehende gut – und sogar noch zu verbessern?

Davon hat Richard Kraft natürlich auch keine Ahnung, aber tausend Argumente zur Hand. Die in seinem Ringen um eine preiswürdige Antwort auch ausführlich durchgespielt werden. Das reicht von der gelehrten theologischen Variante, Gottes Schöpfung könne aus Gründen der Unterscheidbarkeit  nicht ebenso vollkommen sein wie ihr Urheber, bis zur neoliberalen «Trickle-Down»-Theorie, die vom Reichtum oben immer noch genug Brosamen nach unten durchsickern sieht. Unter den Händen des berufsmässigen «Schwaflers» kann daraus freilich nur «ausgedachte Hühnerkacke» entstehen. Umso konkreter sind Krafts Pläne für die Verwendung der Million: Getreu dem ironischen Schema des Romans erhofft sich der havarierte Professor von seiner aus der philosophischen Mottenkiste – in einer amüsanten Bibliotheksszene am Ende mit Schere und Kleber ganz wörtlich – zusammengeleimten Zukunftsvision lediglich den Freikauf von seiner Patchworkvergangenheit. Die mit vier Kindern, zweieinhalb Frauen, überdehnter Tübinger Hypothek und Tonnen unverarbeiteter Isolierwolle auf dem Dachboden nicht unbedingt die Fallhöhe liefert, von der aus Lüscher seinem Protagonisten sein wenig rühmliches Ende bereitet.

Vor dem gross intendierten Finale im Glockenturm der Standford University darf bzw. muss Kraft also noch seine Gelehrtentragödie aufführen und in der kalifornischen Zukunftsblase die Trümmer seiner Vergangenheit sichten. Unterschlupf findet er bei seinem Studienfreund Ivan, der es vom ungarischen Pseudodissidenten im Berlin der frühen Achtziger zum verschwurbelten amerikanischen Rüstungstheoretiker gebracht hat. Die auf der geteilten Leidenschaft für Knight Rider und Margaret Thatcher beruhende Freundschaft hatte seinerzeit Schaden genommen, als die beiden Jungliberalen von einer friedensbewegten Demonstrantin mit einer drahtverstärkten Gerbera traktiert wurden, wobei Ivan ein Auge verlor. Den Krankenhausaufenthalt des Freundes nutzte Kraft, um die «Gerberaschlägerin» Ruth zu schwängern. Der weiteren Verwicklung zuliebe wird der ahnungslose Erzeuger von der werdenden Mutter verlassen, um fristgerecht beim Fall der Berliner Mauer auf seinen Sohn zu treffen. Was Ivan, dessen Name sich als Anagramm von «naiv» entpuppt, endgültig in die Flucht und Kraft in den Hafen seiner ersten Ehe treibt. Tübinger Professur, Altbau, zweites Kind und spätere Trennung inklusive.  Als weitere Altlast erweist sich die Liaison mit der spröden Biologin Johanna Heuffel, deren überstürzte Emigration in die Staaten Kraft noch während der Ehe mit Heike, die selbstredend heikel ist, heimsucht. Die über weite Erzählstrecken im Hintergrund gehaltene Johanna gibt Kraft während seines Stanford-Aufenthalts nun einen willkommenen Anlass, nach San Francisco zu fahren.  Wo pünktlich zur Einleitung des fünften Aktes ein imaginierter Tsunami die Monumente der digitalen Zukunft und die Relikte eines maroden Gemeinwesens auslöscht. Geplündert werden dabei nicht allein die Apple-Stores, sondern, durchaus mit ästhetischem Gewinn, auch Kleists Erdbeben in Chili als bekannteste literarische Variation der Theodizeeproblematik. Motiviert ist die ausführliche Gewaltfantasie – schon im Debüt Lüschers Stärke – als Reaktion des verletzten Narzissten Kraft: Dieser hat von der amerikanisch, reich und lesbisch gewordenen Johanna erfahren, dass sein Charakter ebenso zweifelhaft ist wie sein Erinnerungsvermögen. Für Johanna war die Trennung banal, von ungelösten Lebensrätseln keine Spur. In der Tragödie nennt sich dieser Moment des Erkennens «Anagnorisis», bei Lüscher hört er auf den schwäbischen Namen «Heuffel» – in der amerikanischen Aussprache eben: «You fell.» Quod erat demonstrandum, wobei es dem Autor mit Krafts auf ärgerliche Weise überraschendendem Suizid im Glockenturm von Stanford allerdings noch gelingt, die eher lieblose Mechanik seines Plots auf den letzten Metern zu überdrehen.

Dass aus dieser burlesken Mischung von Campusroman und Gelehrtentragödie, Polityckis mässig gealtertem Weiberroman und dem unverwüstlichen Kleist, Jarmuschs Broken Flowers und enzyklopädischem Reigen, Pynchon und Hamm-Brücher kein homogenes Ganzes entstehen konnte und sollte, liegt auf der Hand. Und diese Heterogenität spricht, wie der philosophisch gebildete Autor Jonas Lüscher natürlich weiss, zunächst einmal für seinen Roman. Dessen gattungsgeschichtlich belegter Reflex auf das grosse Ganze und sein notwendiges Scheitern daran zum Selbstverständnis der melancholischen Moderne und ihrer Ausläufer zählen. Dass also jeder Roman immer auch von seiner eigenen Vergeblichkeit erzählt, sei dem Autor ungeachtet seiner im Vorfeld von Kraft formulierten optimistischen Thesen zur Zukunft politischen Schreibens zugestanden. Und auch um Charakterkritik kann und soll es nicht gehen – bekanntlich war schon Goethes Wilhelm Meister ein kraftloser Geselle. Derlei Bedenken setzen Lüschers Roman ebenso wenig ins Zwielicht wie die fast pflichtschuldige Abarbeitung postmoderner Verfahren wie Anagrammatik und Intertextualität, Illusionsdurchbrechung und Ironie, selbstreflexiver Kommentar und Arbeit am (pop-)kulturellen Archiv. Befremdlich bleibt hingegen die im Gegensatz zum Erzählten geschlossene erzählerische Haltung, in die der schon im Debüt artikulierte Ekel an einer korrumpiert vor sich hintaumelnden Gegenwart in Kraft mündet: In der spöttischen, «unseren Kraft» zum Galgen drängelnden Erzählstimme waltet ein Hohn, den eine Literatur, die nötig wäre, nicht nötig haben sollte. Der ästhetischen Kraftprobe, das geschilderte Chaos und Elend anders denn als blosses Spiel zu perspektivieren, entzieht sich Lüschers Roman durch das fragwürdige Identifikationsangebot eines humorig getarnten Ressentiments. Dieses wird, ebenso wie die feuilletonistisch höchst anschlussfähigen Dekadenzmotive, seine Abnehmer finden. Und es wäre sogar denkbar, dass die aufdringliche Erzählinstanz und ihr teils quälend betulicher Stil auf einen Verfremdungseffekt zielen, der das Publikum mit seinen eigenen Erwartungen, aber auch mit der Scheinfreiheit literarischer Figuren konfrontiert. Anders als im Frühling der Barbaren fehlt es in Kraft jedoch an Signalen, die zu einer solchen Distanzierung von der Distanzierung aufrufen: Hatte das Debüt in der Figur der Brautmutter Pippa, die sich bei der Rezitation von Gary Sniders Gedicht The Axe Handle vor den Bankerfreunden ihres Sohnes blamiert, noch einen klugen Stolperstein für alle jene zu bieten, die der Kraft der Literatur allzu blindlings vertrauten und sich als reflektierte Resthumanisten auf der sicheren Seite wähnten, drängt Kraft seine Leserinnen und Leser gewaltsam auf genau diese Seite. Hinter der feuerfesten Wand aus erzählerischer Distanzierung wartet indes wenig mehr als die schon von Walter Benjamin kritisierte «Hoffnung» des Romanpublikums, «sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem es liest, zu wärmen.» Ob das, nicht nur in diesem kalten Winter, reicht?

Jonas Lüscher: Kraft, Verlag C.H. Beck 2017, ca. 28 Fr.