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Verschüttete Schweiz: «Museum des Hasses»

Hansjörg Schertenleib erinnert sich an das amerikanische Wiedersehen mit Jürg Federspiels verschüttetem «Museum des Hasses» (1969) - und steigt noch einmal zu den dunklen Wurzeln der Schweizer Gegenwartsliteratur hinab.
Das Regal mit den fremdsprachigen Büchern steht im tiefer gelegenen Bereich des Schuppens, der über eine handvoll Stufen zu erreichen ist und dessen Fenster auf die Baum Bay hinausgeht. Auf dem Atlantik blitzen Sonnensplitter, in den engen, langen Durchgängen zwischen den Gestellen drängen sich Kunden, Leserinnen und Leser. Lobster Lane Bookstore auf der kleinen Insel Spruce Head im US-Bundesstaat Maine ist eine Oase für jeden Bücherliebhaber, ein Paradies. Überraschend ist die Auswahl der Romane, Erzähl- und Lyrikbände deutscher Sprache nicht, sehe ich, Grass, Walser (Robert wie Martin), Böll, Rilke, Goethe, Lenz, Mörike, Kehlmann, da gerät mir das Buch in die Hände, das ich 1974 als 17jähriger Setzerlehrling auf Anraten meines Deutschlehrers Nauer gekauft habe, an einem heissen Sommertag auf dem Flohmarkt des Bürkliplatzes am Ufer des Zürichsees, nach Jack Kerouacs «On The Road» und Hermann Hesses «Steppenwolf» das dritte Buch meiner aus finanziellen Gründen viel zu langsam wachsenden Bibliothek: Jürg Federspiels «Museum des Hasses». Die Taschenbuchausgabe, die ich im Lobster Lane Bookstore mit hüpfendem Puls in Händen halte, besitze ich bereits doppelt, dennoch muss ich sie kaufen – sie gehört unbedingt ins Bücherregal unseres Cottages auf Spruce Head, in dem meine Frau und ich seit einigen Monaten die Hälfte des Jahres leben. Die Ausgabe, 1969 erstmals aufgelegt, ist, was für ein Frevel, genau wie viele andere Titel von Jürg Federspiel, vergriffen. Das Buch mit seinem Untertitel «Tage in Manhattan» hatte mich, den Setzerstift, dem die deutsche Literatur oft langweilig, belehrend, moralisch erschien, 1974 an der Gurgel gepackt, durchgeschüttelt und an anderer Stelle auf die Erde zurückgestellt. Lesen, hatte mir «Museum des Hasses» vorgeführt, konnte durchaus eine lebensbedrohende Tätigkeit sein, ein wohltuend gefährliches Abenteuer, eine Reise in unbekannte Gebiete, die einen für immer in einen anderen verwandelte.
Schon nach wenigen gelesenen Sätzen ahnte, nein wusste ich damals, dass Jürg Federspiels Schreiben den Charakter einer Forschungsarbeit entlang jener Grenze besitzt, an der Realität in Fiktion übergeht. Fakten nehmen phantastische Züge an, das Greifbare wird unwahrscheinlich, das Unwahrscheinliche greifbar. «Museum des Hasses» schärfte mein Bewusstein, mich mit Vorteil nicht alleine an Fakten zu halten, wenn ich nicht verfehlen wollte, worum es in Wirklichkeit geht. Federspiel schrieb nicht aus sicherer Distanz, er blieb in Tuchfühlung mit seinem Stoff, trat seinen Figuren unerschrocken auf Augenhöhe gegenüber. Daraus resultierte eine Prosa, die vor Leben strotzte und dennoch nie die Präsenz des Todes verleugnete. Nahezu jeder Satz, den ich begierig aufsog, bewegte sich vor jener haarfeinen Linie, hinter der alles Leben sein Ende findet, und untersuchte erkenntnishungrig das lebendige Menschengewusel vor eben dieser Grenzlinie. «Museum des Hasses» betrachtete das Leben vom Ende her, vom Tode her – was für eine belebend erschütternde Erfahrung für den jungen Leser, der ich war! Die Menschen, von denen Federspiel erzählte, hatten nichts zu lachen. Eine Tatsache, aus der er grimmigen, bitterbösen Humor schlug. Das Lachen von uns Lesern, ausgelöst von diesem Humor, vermochte den Tod in die Flucht zu schlagen, nicht auf ewig, jedoch zumindest für die Dauer der Lektüre. Und danach? Danach waren wir wieder für uns selbst und für unser drohendes Ende verantwortlich, sogar das begriff ich als junger Leser.
«Würden Sie», fragte er höflich, «die Höflichkeit haben und ihre Träume etwas drosseln. Bild und Ton, wenn ich bitten darf.»
Spätestens mit dieser Passage auf Seite 15 hatte mich der Erzähler Jürg Federspiel am Haken. Der da den Ich-Erzähler und somit den Leser in «Museum des Hasses» in einem New Yorker Appartment mitten in der Nacht aus dem Schlaf klingelt, um ihm das Träumen zu reglementieren und seine Visitenkarte zu überreichen, heisst Paratuga: «Die Karte war schmierig und schwer wie ein Bügeleisen. Dr. Huntington-Paratuga, las ich, Frischobst, Platzreservationen, Investitionen, Textilien u.a.». Dieser Paratuga, dem Chaos der Riesenstadt New York entsprungen, ist eine jener katalysatorischen Persönlichkeiten, die nie selber agieren, sondern durch ihr blosses Auftreten Dramen auslösen und Unruhe stiften. Ein wunderbarer Nörgler und Querulant, der mir, gerade 17 Jahre alt, zum Verbündeten wurde. Dass ich diesem Paratuga in späteren Büchern Jürg Federspiels mehrmals wiederbegegnete, las ich als Beweis, dass der Störenfried dem Autor so wichtig war wie mir.
«Museum des Hasses» brachte mir eine Metropole näher, die ich erst Jahrzehnte später selber kennenlernen sollte; das Buch begleitete mich als Reiseführer, gerade weil es die Grenzen der Fakten überschritt und in Bereiche vordrang, die kein Journalist je betreten kann, sondern nur ein Schriftsteller, der um die finstersten Seiten weiss, der sich an den Rand jedes Abgrundes traut, um neugierig in ihn hinabzuschauen, ja hinabzusteigen, um uns zu berichten, was er gesehen, geschaut. Das Buch legte die Trauer über den drohenden Tod lahm, weckte Lust auf das Leben, feierte Neugier und Gier, berichtete von Verzweifelten und Abgestürzten, die dennoch Würde besassen, Stolz.
Janine York Heath, ihr gehört der Lobster Lane Bookstore, war früher ebenfalls auf Spruce Head Island zu Hause; seit sie in Massachusetts lebt, öffnet sie ihr secondhand-Bücherparadies, in dem sich über 30’000 Titel finden, nur an Sommerwochenenden. Ihre Kunden kommen von weither, wie die Nummernschilder der geparkten Autos beweisen, die die Island Road säumen. Als ich ihr die zwei Dollar für «Museum des Hasses» über die Bücherstapel auf dem Tresen hinüberreiche, sieht sie mich strahlend an: «Das ist eines meiner fünf Lieblingsbücher, pass gut darauf auf», sagt sie und lässt «Museum des Hasses» für einen irritierend langen Moment nicht los, nachdem sie es mir zurückgegeben hat. Da stehen wir nun also, die Leserin und der Leser, halten gemeinsam ein Buch fest, sehen uns wissend und verschwörerisch an und warten, dass der eine loslässt.
Jürg Federspiel: Museum des Hasses. Tage in Manhattan. 267 Seiten. Erstausgabe: München: Piper 1969.