KW35

Vom Reisen und Ankommen

Anna Stern

Franz Hohlers neuer Kurzgeschichtenband bietet 43 Texte, die sich auch zum Lesen auf dem Perron eignen. Im Mittelpunkt steht dabei das Reisen in allen seinen freiwilligen und erzwungenen Formen.

Von Marina Zwimpfer
24. August 2020

Fern und doch nah

Die fiktive Reiseliteratur: Als eines ihrer ältesten Beispiele kennt man Homers Odyssee, in der wunderbare, erfundene Abenteuer und Erlebnisse mit realen Schauplätzen und Reiserouten verschmelzen. Auch die literarischen Nachfolger von Cervantes bis Goethe kamen selten mit wenigen Seiten aus. Bei Hohler sieht das Ganze jedoch etwas anders aus. Seine Reiseberichte sind in ein- bis zweiseitige kurze Geschichten verpackt. Die Vorliebe des Schweizer Kultautors für die kleine Form kennt man schon von früheren Werken, zuletzt erschien 2015 mit Ein Feuer im Garten, ein neuer Band. Einfallsreich und witzig sind Hohlers Texte über die etwas ungewöhnlicheren Reisen, die von den kleinen Ausflügen des Alltags berichten. Nicht immer, das zeigt Hohler in seinem neuen Buch auf, braucht es die grosse Weltreise, um eine Geschichte zu erzählen. So zählt zum Beispiel der Gang eines Hundertjährigen zur Bank altersbedingt auch schon zu den Reisen. Spektakulärer ergeht es dagegen dem Schwimmer, der sich beim allwöchentlichen Ausflug ins Hallenbad plötzlich in einem Meer wiederfindet. Im Finden und Erkennen der Magie des Alltag ist Hohler nach wie vor ein Meister.

Politisch-historisches etwas bemüht

Doch Hohler erzählt auch von Reisen an weiter entfernte Orte, wie zur Hochzeit nach Kenia oder zu Buchmessen in Sarajevo, Krasnojarsk oder Kiew. Diese Texte sind jedoch nicht ganz so gelungen. Oft scheint Hohler ein Bedürfnis zu haben, politische oder historische Begebenheiten, die mit einer bestimmten Stadt oder einem Ort verbunden sind, in seine Texte einzubauen. Das wirkt gelegentlich etwas ziellos oder sogar bemüht. Einige der Texte erscheinen dann eher wie politisch-historische Berichte, meistens fehlt ihnen auch eine Pointe. Man spürt Hohlers Bedürfnis, sich auch in seinem Schreiben politisch zu positionieren. Schliesslich tritt er immer mal wieder gerne als Politiksatiriker auf. Doch hier kann er literarisch nicht ganz überzeugen.

Zum Autor

Franz Hohler, geboren 1963 in Biel, lebt als Autor, Kabarettist und Liedermacher in Zürich. Hohlers umfangreiches Werk umfasst Prosastücke, Dramen, Kinder- und Hörbücher. Als als Regisseur und Drehbuchautor hat er in vielzähligen Film- und Fernsehproduktionen mitgewirkt. Hohler wurde mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen geehrt, unter anderem mit dem Salzburger Stier und dem Solothurner Literaturpreis.

Erzählerische Zufluchten

Eine ganz spezielle politische Thematik in Bezug auf das Reisen ist ihm jedoch geglückt: Die Flüchtlingskrise ist in vielen von Hohlers Texten spürbar. Sein Umgang mit diesem Thema, das ihm offensichtlich persönlich am Herzen liegt, ist manchmal witzig-skurril, wenn in etwa ein Unkraut, das die gepäppelten Tomatenstauden eines Balkongärtners verdrängt, als «Asylbewerber» beschimpft wird, aber auch ernst und nachdenklich stimmend. Sehr eindrücklich ist die Geschichte, die den Band eröffnet. Sie handelt von einem langen Aufstieg in die Idylle der Schweizer Alpen zu einem einsamen Bergsee. Doch die Ruhe der Natur wird plötzlich von einem Boot voll Schwarzer Menschen gestört, die im See auftauchen. Hilfesuchend werfen sie dem Wanderer ein Seil zu. Ob er es ergreifen und die Menschen ans sichere Schweizer Land ziehen wird, der Rettungsinsel inmitten Europas?

Mit solchen Geschichten appelliert Franz Hohler auch beim Thema Reisen an unsere Menschlichkeit. Nicht ohne Grund sei schliesslich das Gehen «die menschlichste aller Fortbewegungsarten», wie es in einem der Texte einmal heisst. Trotz kleinerer Durchhänger beweist Hohler in seinem neuen Band auch deshalb viel Menschlichkeit und Feingefühl, weil er bei allem Reisefieber auch nicht vergisst, dass es für manche Reisende doch mehr als wünschenswert wäre, wenn sie endlich irgendwo ankommen könnten.

Franz Hohler: Fahrplanmässiger Aufenthalt. 112 Seiten. München: Luchterhand Verlag 2020, ca. 32 Franken.

Weitere Bücher