KW27
Von den Fänggen

In Erinnerung an Anita Hansemann (1962-2019).
Die «Fänggen», die wilden Frauen hatten es ihr angetan. In der Bergkulisse von Anita Hansemanns Debütroman Widerschein (2018) waren sie zuhause und blickten tief in die Herzen der Bewohner der Bündner Dorfwelt. Unvergesslich die Rede des «Äbifräuli», die dem fliehenden und unmöglichen Geliebten Viid ohne Umschweife attestiert, er sei «eines dieser Ungeheuer, die schwerer und schwerer werden, untragbar für jeden, den du liebst». Diese Frauen – wie ihre Schöpferin – stehen in einem seltsam symbiotischen Verhältnis zur Natur, verwoben mit Tiermythen wie dem der weissen Gämse, Schutzpatroninnen und Unheilsbotinnen in einem. Man kann sie nicht von ihrer Welt trennen, ihre Geschichte ist mit jener der Felsen, Wälder und Bäche verwachsen, so wie auch Anita Hansemanns Erzählen selbst sich aus den Tälern ihrer Heimat, des Prättigaus, erhoben hat – ohne gleichwohl «Heimatliteratur» zu werden.
Widerschein steht vielmehr in der Tradition von Meyers Richterin: Wie diese kreist der Roman um ein Geschwisterpaar, das sich nicht als solches weiss, sondern zum Liebespaar zu werden droht, um eine verborgene Schuld der Vorgeneration, die nur durch den Sturz in den Mythos zur Sprache gelangen kann. Jenseits der Sozialgeschichte, neben dem Schicksal der Jenischen – das ihr, einer studierten Sozialarbeiterin, zweifellos von Bedeutung war – besitzt Hansemanns Text eine ganz eigene Tiefe. Das Erscheinen und Verschwinden der Liebenden und Hassenden auf der Bühne wird hier von einer anderen, man möchte meinen naturwüchsigen Macht anbefohlen, deren Wirken der Roman vorsichtig herausarbeitet. Langsam trägt er die Lawinenlast ab, rettet die Verschütteten, birgt manche tot und manche lebendig und manche sowohl tot wie lebendig. Ein sehr beachtliches Debüt ist das. Umso bestürzender kommt es uns an, dass Widerschein Anita Hansemanns einziger Roman bleiben wird.
Noch Ende April hatten wir uns beim Dramenprozessor in der Zürcher Winkelwiese gesprochen. Gleich ging es wieder um die Remythisierung des Erzählens, um die Bedeutung von Landschaft für die Literatur. Ich sprach von meiner Widerschein-Lektüre, Anita bereits von ihrem Nachfolgeprojekt, das den Arbeitstitel «Madrisa nera» trug, auf dem «Canzun da sontga Margriata» aufruhte und erneut von den Frauengestalten der Bündner Sagenwelt hätte getragen werden sollen. Es wäre eine weitere Wanderung durch einen ganz eigenen literarischen Kosmos geworden – und wie gerne wäre man ihr noch einmal über den Berggrat gefolgt.
Unser Gespräch endete jedoch viel zu schnell und keine Zeit blieb uns mehr, noch einmal daran anzuknüpfen. Am 28. Juni 2019 ist Anita Hansemann in Zürich verstorben. Ihre Stimme wird fehlen.
Anita Hansemann: Widerschein. 272 Seiten. Luzern: edition bücherlese 2018, 29 Franken.