KW52
Wilhelm Tell auf Sizilien
Gertrud Leuteneggers «Späte Gäste» verschränkt die private Fluchtgeschichte aus einer Liebesbeziehung mit der politischen Gegenwart von Flüchtlingsschicksalen. Dahinter steckt mehr als ein Ringen um Aktualität.
Ein Friedhof nahe der italienischen Grenze. An der Schwelle zur Totenkapelle steht eine Frau, die versucht im diffusen Licht die Umrisse eines Sargs zu erkennen. Der Verstorbene ist Orion, der Vater ihres Kindes, mit dem sie einst im Bergdorf gelebt hatte, bis sie mit dem Kind die Flucht vor ihm ergriff. Nun ist sie zurück und hält in den verlassenen Räumen des Wirtshauses, einer ehemaligen Herrschaftsvilla, Totenwache. Passionierte Leser*innen von Leuteneggers Werk erkennen in der Ausgangslage ihres neuen Romans eine Rückkehr zum Figureninventar und der Beziehungskonstellation von Pomona (2004) sowie auch zu den durchwachten Nächten in Vorabend (1975), Ninive (1977) und Panischer Frühling (2014). Auch auf formaler Ebene erkennt man den nach innen gerichteten Blick wieder, der so programmatisch ist für Leuteneggers Erzählweise. So ist «Späte Gäste» ein Geflecht von Erinnerungssequenzen und Assoziationen, bei dem die Handlung zugunsten einer atmosphärischen Dichte deutlich zurücktritt – bis hin zur stellenweisen Stagnation.
Im Karneval der Geflohenen
Es ist dieses leise Kreisen um eine poetisch verschlüsselte Welt, welches Leuteneggers Schreiben den Ruf der Weltfremdheit eingebracht hat. Daher liest es sich wie ein poetologisches Versprechen, es diesmal anders zu machen, wenn die meditative Anfangsstimmung in Späte Gäste nun jäh durchbrochen wird: Leutenegger verlegt die Handlung in die lärmige Zeit der Fasnacht. Im Tal jenseits der Grenze treffen sich die Dorfbewohner als Schöne und Hässliche verkleidet zum Mitternachtsmal, wobei sich nun auch Migranten unter die Maskierten gemischt haben. Gleich dem karnevalistischen Festmahl, bei dem sich Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft in familiärer Verbundenheit zu Polenta und Kaninchenragout zusammensetzen, mischt sich auf erzählerischer Ebene etwas Neues, Fremdes in Leuteneggers altbekannte Themen von Erinnerung, Liebe und Tod. Mit den Migrierten nämlich, die am Tisch mitessen, gibt es eine willkommene thematische Erweiterung hin zum zeitaktuellen Geschehen, wobei dieser Einbruch des Unvertrauten durchaus Bewegung in den Text bringt. In einer motivischen Auffächerung stellt die Ich-Erzählerin ihrer persönlichen Flucht vor der «Schreckensherrschaft» des Haustyrannen Orion weitere Fluchtgeschichten an die Seite und wenn sie die sizilianischen Kinder beim Anblick der dicht an dicht gedrängten, ins Wasser baumelnden Beine der in Schlauchbooten ankommenden Geflüchteten «Tausendfüssler! Tausenfüssler!» rufen lässt, wird das Migrantenschicksal an den Küsten Europas und die damit einhergehende Fremdheit und Entmenschlichung in ein ausdrucksstarkes Bild gefasst.
Die Urszene der Schweiz
Wer dem Text nun unterstellt, mit Schlagworten der Flüchtlingskrise erzählerisch Kapital zu schlagen, wird ihm nicht gerecht. In einer Geste der Empathie wird darin der Schweizer Nationalmythos um Wilhelm Tell kurzerhand umgeschrieben: Tell, der rezeptionsgeschichtlich mal als rebellischer Freiheitskämpfer, mal als Reaktionär und Patriot gefeiert wurde, erfährt hier eine Re-mythisierung als Geflüchteter, als die Erzählerin auf ein Fresko der Tellskapelle vor dem Hintergrund des Ätna und dem tobenden Mittelmeer stösst: «Der Sprung aus der Todesfurcht! Hinaus auf die Felsplatte. In die Freiheit. Das ist der verehrungswürdigste Augenblick einer versunkenen Geschichte, oft entstellt, oft missbraucht.»
Mit dieser Umdeutung der Urszene des Schweizerischen Selbstverständnisses, der Rückprojektion des Schweizer Nationalhelden als Flüchtender, legt Leutenegger neue Sinnzusammenhänge offen, die bis in unsere Leserwirklichkeit dringen, um eine entscheidende Frage in den Raum zu stellen: Wie verändert sich unsere Wahrnehmung der Flüchtlingskrise, wenn man im Fremden das Eigene zu erkennen vermag?
Stilistische Falltüren
Bei der Betrachtung dieser sorgfältigen Schichtung von Bedeutungsebenen, der karnevalistischen Verschmelzung von Zeitaktuellem und Mythologischem, kommt man nicht umhin zu bemerken, dass sich Schwachstellen im Roman genau da bemerkbar machen, wo er stilistisch aufblüht. Der Balanceakt zwischen Zeitpolitischem und Zeitlosem will nicht ganz gelingen, die Szenerie wirkt eingefroren und artifiziell, wie ein Standbild eines Fastnachtsumzugs, verstummt, ohne das ausgelassene Gelächter und die subversive Polyphonie, die zwar angelegt, dann aber doch nicht konsequent durchgezogen wird. Dazu kommen einige sprachgestalterische Schnitzer, die bei einer Stilistin von Leuteneggers Format doch etwas irritieren. Da wären zum einen die kindlich-ungestüme Ausrufe – des Entzückens, des Erstaunens, des Erschreckens – oft und gerne auch begleitet von gekünstelten Lauten wie «aber ja», «aber welch» und «aber wie». Auffallend ist auch der inflationäre Gebrauch von Fragezeichen, welcher Lesende durch Spannungserzeugung in den Text ziehen soll («Haben mich Schritte geweckt?») oder als aufdringliche Ausdeutung von Atmosphäre und Handlung fungieren («Wache oder schlafe ich?»). Dazu kommt eine Anhäufung von Adjektiven, die einem visuellen Diktat gleichkommt.
Ein poetisches Statement
In den Grundzügen ihres Schreibens bleibt sich Leutenegger allerdings treu: Der schlanke Roman liest sich nicht als politisches Statement, sondern als poetisches. Ihr geht es darum, Stimmungen einzufangen, eine Atmosphäre heraufzubeschwören, alles in der Schwebe zu halten. Sie überlässt uns Lesenden die Wahl, ob wir bestimmte Zusammenhänge sehen wollen oder nicht. Nach der Lektüre stellt sich ein Gefühl ein, welches demjenigen nach einer Nacht voller Wachträume im Halbschlaf nicht unähnlich ist: Was bleibt, sind einzelne Bilder, Stimmungen und Sprachfetzen – transitorisch, ephemer, flüchtig. Und ist darin eben doch ein wenig wie die Fasnacht.
Gertrud Leutenegger: Späte Gäste. 174 Seiten. Berlin: Suhrkamp 2020, 31.50 Franken.